Als Hitler Polen eroberte, war Leon Weintraub 13 Jahre alt. Es folgten Ghetto, Auschwitz, Gefangenenlager, Leid und Hunger: Bei der Befreiung 1945 wog er gerade einmal 35 Kilogramm. Am Glauben an die Menschen hält er bis heute fest, und gibt bei Markus Lanz ein eindrucksvolles Plädoyer für Frieden.

Eine Kritik
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In Schweden, den Niederlanden und in Deutschland: Die europäische Rechte erstarkt nicht erst seit Beginn der Corona-Pandemie. Seit dem Überfall der Hamas auf israelische Bürger und dem darauffolgenden Kriegsausbruch im Nahen Osten nehmen hierzulande auch antisemitische Strömungen zu.

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"Deutschland ist das einzige Land auf der Welt, das seine Geschichte nicht unter den Teppich kehrt", ist der Holocaust-Überlebende Leon Weintraub dennoch überzeugt. Der 98-Jährige legte bei "Markus Lanz" einen beeindruckenden Auftritt hin.

Das ist das Thema bei "Markus Lanz"

Es sei die "Chance auf eine Geschichtsstunde, wie es sie leider nicht mehr oft geben wird": Markus Lanz versprach bei seiner Begrüßung nicht zu viel. Als einer von weltweit rund 245.000 Holocaust-Überlebenden erzählte der 98-jährige Arzt Leon Weintraub seine Geschichte. Er überlebte Auschwitz, drei weitere Lager und einen Todesmarsch. Später arbeitete er als Gynäkologe in Polen, emigrierte aber 1969 wegen des zunehmenden Rechtsrucks nach Schweden. Seit er vor 30 Jahren in den Ruhestand getreten ist, schildert er die "Geschichte gegen das Vergessen" - in Schulen, an Gedenkstätten und an diesem Abend bei Markus Lanz.

Was daraus angesichts des Rechtsruck in der Gesellschaft zu lernen ist, diskutierten im Anschluss Nadine Lindner, Politikredakteurin vom "Deutschlandradio" und Bestsellerautor Harald Jähner.

Das sind die Gäste

  • Leon Weintraub, Shoah-Überlebender: "Es kostet nichts, in Frieden nebeneinander zu leben."
  • Harald Jähner, Autor: "Menschen, die Angst haben vor anderer Religion, vor Leuten mit islamistischem Hintergrund, die unsere Gesellschaft ablehnen und ein machistisches Verhältnis zu Frauen haben (...), pauschal als Nazis zu bezeichnen, dämonisiert sie und führt dazu, dass sie bei widerlicheren Menschen an Respekt gewinnen und dass die Gesellschaft desensibilisiert und Unterschiede zu wirklich gefährlichen und bedenklichen Leuten zusammenschmelzen."
  • Nadine Lindner, Journalistin: "Wenn ich etwas mitnehme, dann dass man nicht nur betont und sagt, es gibt Artikel 1 ("Die Würde des Menschen ist unantastbar"), sondern deutlich macht: Was heißt das für die Gesellschaft und wie wir uns als Bürger:innen sehen und einander unterstützten?"

Das ist der Moment des Abends bei "Markus Lanz"

"Der berühmte Daumen - rechts bedeutete Tod. Links Leben - auf Aufschub." An die Ankunft im Konzentrationslager und die "Prozedur der Entmenschlichung" erinnert sich Leon Weintraub ganz genau. Seine Mutter hätte sich krampfhaft an seiner Tante Eva festgehalten, die zehn Jahre älter war und somit sofort den rechten Finger erhalten habe. "Sie hat Mama mitgezogen", berichtete der Vater einer Tochter. Am nächsten Tag sei sie vergast worden.

Markus Lanz, Leon Weintraub
Ein denkwürdiger Auftritt: Der 98-jährige Holocaust-Überlebende Leon Weintraub (r.) erzählte am Dienstagabend bei Markus Lanz seine Geschichte. © ZDF / Cornelia Lehmann

Ihn habe man als potenzielle Arbeitskraft in den Block 10 gesteckt, so Weintraub weiter. "Ich hatte Pech, ich habe keine einzige Person von früher gekannt", erzählte er. "Meine drei Schwestern waren zusammen. Wäre meine Mutter bei der Selektion durchgekommen, hätte sie eine Chance gehabt zu überleben, mit drei Töchtern ...", sagte er und stockte.

Es war diese kurze Pause, in dem ihn Emotionen überkamen. "Quält sie das bis heute?", fragte Markus Lanz. "Ja, das ist ein Gedanke, der mich immer quält. Eine Art Leid", meinte Weintraub. "Das merkt man", stellte der Moderator das Offensichtliche fest. Doch Weintraub ließ sich in seiner Schilderung dieser "Prozedur der Entmenschlichung" nur kurz aufhalten und berichtete - wieder ganz sachlich - vom Geruch nach schwer verbranntem Fleisch.

Ob ihm klar gewesen wäre, dass hier Menschen verbrannt wurden, unterbrach ihn Lanz. "Keine Ahnung. Ich habe den Mund nicht aufgemacht, ich kannte ja keinen", antwortete der frühere Gynäkologe. "In der Medizin gibt es den Ausdruck Katatonie, der Ausdruck der Erstarrung. Man sieht, hört, kann Befehle ausführen, aber hat keine höhere Hirntätigkeit. Man ist wie in einem Kokon eingeschlossen. Es ist ein Selbsterhaltungstrieb, der mich verschont hat, das richtig wahrzunehmen, was um mich geschieht. Sonst wäre ich durchgedreht."

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Das ist das Rede-Duell des Abends

"Wie setzt man sich beispielsweise mit der AfD auseinander, kritisch, klar, aber ohne sie zu dämonisieren?", war die Frage, die Markus Lanz an Autor Harald Jähner weitergab. "Indem man sie ganz genau beschreibt und auch die Unterschiede beschreibt", antwortete dieser. Menschen "pauschal als Nazis zu bezeichnen, dämonisiert sie und führt dazu, dass sie bei widerlichen Menschen an Respekt gewinnen". Das dränge die Leute nach rechts.

Journalistin Nadine Lindner widersprach: "Mein Eindruck ist, dass die AfD sehr genau weiß, was sie tut und verantwortlich gemacht werden muss", argumentierte sie. Spätestens seit dem Geheimtreffen mit Martin Sellner als langjährigem Vordenker der identitären Bewegung fänden gewisse Selbststeuerungsmechanismen in dieser Partei nicht mehr statt.

Markus Lanz. Leon Weintraub, Nadine Lindner, Harald Jähner
Markus Lanz (l.) sprach am Dienstagabend mit dem Holocaust-Überlebenden Leon Weintraub (2.v.l.), der Journalistin Nadine Lindner (2.v.r.) und Autor Harald Jähner. © ZDF / Cornelia Lehmann

"Wenn wir in Diskussion mit dem politischen Gegner (...) dahinter das viel Bösere sehen, statt ihm zu unterstellen, er meint es gut, vergeben wir alle Möglichkeiten, mit ihm ins Gespräch zu kommen", entgegnete Jähner. Ein Beispiel dafür wäre, Tino Chrupalla in einer Talkshow nicht als Heuchler darzustellen, wenn er sich als AfD-Mitglied gegen die Abschiebung ausspräche. Wenn man "so einen positiven Satz als Heuchelei darstellt und in Zweifel zieht, statt ihn zu honorieren, verwischt man Unterschiede", übte er Kritik an seiner eigenen Zunft, dem Journalismus.

Diese hätten etwa das "Unbehagen an den Corona-Maßnahmen besonders im Osten in eine bestimmte Ecke geschoben", nahm er sich als ehemaliger Feuilleton-Chef der "Berliner Zeitung" vom großen Versagen nicht aus. Ähnliches sei bei der Flüchtlingswelle 2015/2016 passiert: Man hätte eine Willkommenskultur zelebriert, statt auch über Probleme zu berichten. Auf diesen "Kampagnenjournalismus" hätte die ostdeutsche Bevölkerung "zu Recht allergisch" reagiert.

"Teilen Sie das?", wandte sich Lanz an Lindner: "Wenn wir zu einem anderen Miteinander kommen wollen", wäre es nicht die Aufgabe der Medien zu differenzieren? "Ja und nein", meinte die Deutschlandfunk-Reporterin, die sich beim Aufkommen der AfD 2013 bis 2015 in Sachsen aufhielt. Seither wäre die Asyl- und Migrationspolitik restriktiver geworden. Und: "Die AfD ist viel stärker und näher dran, diese Dinge auch umsetzen zu können, weil sie an der Macht kratzt", warnte sie.

So hat sich Markus Lanz geschlagen

Markus Lanz hatte an diesem Abend wenig zu tun - und er schien die Bühne gerne dem Holocaust-Überlebenden Leon Weintraub zu überlassen. Gleichzeitig hatte er sich gut auf das Gespräch vorbereitet und gab sich sensibel und nahbar. Wie wichtig es ihm war, aus der Geschichte zu lernen, wurde in der Diskussion mit Journalistin Nadine Lindner und Autor Harald Jähner deutlich.

Das ist das Fazit bei "Markus Lanz"

"Sobald ich einen Schüler treffe, der dir zugehört hat, fragt er immer nach dir", soll ein Geschichtslehrer zu Leon Weintraub gesagt haben, in dessen Schule der Shoah-Überlebende von seinen Erlebnissen im Holocaust berichtete. Einen tiefgreifenden Eindruck hinterließ er auch im Interview mit Markus Lanz. Vor allem sein Glaube an die Menschen und den gesunden Menschenverstand waren inspirierend, auch für Lanz: "'In Frieden miteinander leben kostet nichts'. Diesen Satz werden wir uns alle merken", meinte der Moderator zum Abschluss.  © 1&1 Mail & Media/teleschau

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