Entlassungen bei Siemens und ein boomender Niedriglohnsektor: Der deutsche Arbeitsmarkt hat trotz Wirtschaftswachstum und niedrigen Arbeitslosenzahlen auch Schattenseiten. Bei "Hart aber fair" lassen Einblicke in den Alltag von Paketzustellern eine besorgniserregende Entwicklung erkennen.
Der Wirtschaftsboom fühle sich für viele Menschen in Deutschland eher wie eine Krise an, meint Moderator
Wie sich der Arbeitsmarkt derzeit entwickelt, zeigt "Hart aber fair" mit zwei aktuellen Beispielen: Zunächst beim Siemens-Konzern, der im November trotz einer Gewinn-Steigerung ankündigte, Arbeitsplätze zu streichen, vor allem in Ostdeutschland.
Was das für die Betroffenen bedeutet, zeigt ein Einspieler in der Sendung: Für eine Familie in Görlitz haben die Pläne von Siemens-Chef Joe Kaeser gravierende Folgen. Denn Großvater, Vater und Mutter arbeiten alle bei Siemens, die Kinder gehen in die Siemens-Kita. Gerade hat die Familie ein Haus gekauft - und plötzlich steht ihre ganze Zukunft in Frage.
Leni Breymaier, SPD-Landesvorsitzende in Baden-Württemberg, bringt die Siemens-Entscheidung auf die Palme: "Auch ein Unternehmen wie Siemens hat eine soziale Verantwortung", moniert sie. Die ganze Region leide darunter, wenn gute Arbeitsplätze wegfallen. "Die haben bestimmt auch Steuergelder bekommen, um in Görlitz was aufzubauen", glaubt Breymaier.
Überhaupt hat der Konzern der Politik viel zu verdanken – zum Beispiel viele Großaufträge vom deutschen Staat, wirft der Frankfurter Ethik-Professor Bernhard Emunds ein: "Siemens hat wie kein anderer vom Standort Deutschland profitiert." Auch bei der Vermittlung ins Ausland ist die Regierung behilflich: "Wenn Frau Merkel oder Herr Gabriel irgendwohin fliegen, ist fast immer der Herr Kaeser mit dabei."
Große Konzerne als "vaterlandslose Gesellen"
Das Unternehmen selbst begründet den Schritt mit seiner Zukunftsfähigkeit. Unrentable Sparten mit schlechten Aussichten müssen geschlossen werden – das zeigen die Erfahrungen aus der Vergangenheit mit dem unrühmlichen Ende der Telekommunikationssparte bei Siemens.
Wirtschaftsjournalist Roland Tichy findet das zwar nachvollziehbar, vermisst bei Siemens aber trotzdem, sich für den Erhalt aller Arbeitsplätze den "Hintern aufzureißen". Die Strategie sei, die großen Standorte zu stärken – zulasten der kleineren. Das sei vor allem ein Phänomen großer Konzerne, denn die kleinen Unternehmen fühlten sich ihrer Region mehr verbunden. "Die großen Konzerne sind ein wenig vaterlandslose Gesellen geworden", meint Tichy.
Die zu Beginn etwas zu zahme Diskussion bei "Hart aber fair" war sicherlich auch dem Umstand geschuldet, dass kein Siemens-Vertreter mit am Tisch saß. So war man sich weitestgehend einig, dass Siemens hier keine gute Figur abgegeben hat.
Doch was ist die größere Entwicklung dahinter? Greifbarer wird das Dilemma bei den Paketboten. Jetzt zur Weihnachtszeit natürlich besonders aktuell – und der Moment, wo "wir alle ein bisschen Siemens sind", so Wirtschaftsjournalist Tichy. Denn wie oft geben wir dem Zusteller, der unser Päckchen in den fünften Stock hochschleppt, ein Trinkgeld?
Paketboten: Schuften unterm Mindestlohn
WDR-Moderator Dieter Könnes widmete eine Folge seiner Sendung "Könnes kämpft" den Arbeitsbedingungen bei den Paketzustellern. Und deckte dabei so erschreckende Missstände auf, dass die Journalisten die Polizei einschalten mussten. Besonders die Fahrer, die nicht direkt bei den Lieferdiensten, sondern bei Subunternehmen angestellt sind, würden oft sehr schlecht verdienen.
Von einem Lohn zwischen drei bis sechs Euro fünfzig in der Stunde berichtet eine ehemalige Zustellerin, die laut Könnes aus "Angst um ihr Leben" anonym bleiben möchte. Nach seinen Recherchen gebe es zum Teil gar keinen oder nur einen geringen Festlohn für die Zusteller, stattdessen eine Pauschale für die Pakete. Je ländlicher eine Region ist, desto niedriger also der Lohn.
Viel zu wenig für den anstrengenden Job. "Ich habe deutlich mehr Respekt vor Paketboten", hat Könnes durch seinen TV-Beitrag gelernt. Die Unternehmen selbst wären nicht bereit gewesen, mit ihm vor der Kamera zu sprechen.
Florian Gerster vertritt bei Plasberg als Vorsitzender des Bundesverbands der Paket- und Expresslogistik die Branche. Die Beispiele von Könnes will er als "Einzelfälle" verstanden wissen und wirft dem Reporter vor, mit dem Thema "reißerisch" umzugehen.
Keine Wertschätzung für Dienstleistungen
Solche Missstände seien aber auch eine Folge einer gesellschaftlichen Entwicklung und dem Verhalten der Menschen. Es werde lieber auf dem Sofa etwas bestellt, als in die Stadt zu gehen, bei Anbietern, die mit kostenloser Lieferung werben. "Es herrscht kein Bewusstsein darüber, was diese Dienstleistung tatsächlich wert ist!", beklagt Gerster.
Dabei gebe es einen Preiskampf in der Branche. Marktbeherrscher DHL könne Preise anbieten, mit denen die Mitbewerber nicht konkurrieren können. Deutschland sei aber ein Rechtsstaat, wirft Gerster ein. Gegen die Missstände könnten die Arbeitnehmer vorgehen.
Da wird SPD-Politikerin Breymaier sauer. "Es ist zynisch im Quadrat, den Leuten vorzuwerfen, sich ausbeuten zu lassen", fährt sie Gerster an. Mitleid mit den Unternehmen hat sie nicht übrig: "Niemand wird gezwungen, einen Lieferdienst aufzumachen."
Auch die Anderen in der Sendung finden, dass die Logistiker ihre Verantwortung nicht einfach auf ihre Subunternehmer abwälzen können und damit "den Sündenbock gleich mit einkaufen", wie es Plasberg formuliert. Ethik-Professor Emunds schlägt als Mittel für die Politik vor, Verstöße gegen den Mindestlohn schärfer zu sanktionieren.
"Wir driften in eine Gesellschaft ab, die mir Angst macht"
Viel ist bei Plasberg von Verantwortung die Rede. Die Politik hat die Verantwortung für ihre Bürger, die Unternehmen für ihre Beschäftigten und den Standort, an dem sie arbeiten. Aber auch der Verbraucher hat eine Verantwortung – für die eigene Kaufentscheidung, für die Dienstleistung, die er in Anspruch nimmt.
Die Paketboten sind letztlich ein Beispiel von vielen. Denn nicht wenige Arbeitnehmer haben in Deutschland in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten die Erfahrung gemacht, dass ihre Berufe entwertet worden sind. Paketboten, Friseure, Buchhändler, auch Journalisten.
Doch fehlt bei Plasberg die große Frage, die dahinter steht: Lässt sich diese Entwicklung aufhalten? Und wenn ja, wie? Der Wirtschaftsjournalist Tichy fürchtet jedenfalls, dass der deutsche Arbeitsmarkt in einen kleinen Kern von Gutverdienern und eine immer größer werdende Zahl von Geringverdienern gespalten wird: "Wir driften in eine Gesellschaft ab, die mir Angst macht."
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.