Die pandemische Notlage ist offiziell ausgelaufen, aber in Deutschland spitzt sich die Corona-Lage immer weiter zu. Flächendeckende Lockdowns sind mit dem neuen Infektionsschutzgesetz nicht mehr möglich. "Anne Will" diskutiert mit ihren Gästen: Kann 2G allein die vierte Welle brechen? Während Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) Fehler im Pandemie-Management einräumt, holt eine Journalistin zum Angriff auf FDP-Chef Christian Lindner aus.

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Rechtlich ist die "pandemische Notlage" von der Ampel-Koalition beendet worden, doch die Corona-Zahlen in Deutschland sprechen eine andere Sprache: Mit einer bundesweiten Sieben-Tage-Inzidenz von über 400, inzwischen über 100.000 Toten und überlasteten Intensivstationen überrollt die vierte Corona-Welle das Land. Bleibt kaum Zeit für die neue Regierung wie angekündigt "mehr Fortschritt" zu wagen und den Klimaschutz zu forcieren. Die wichtigste Aufgabe bleibt eine alte: Pandemiebekämpfung.

Das ist das Thema bei "Anne Will"

Die Ampel-Koalition befindet sich mitten in der Regierungsübernahme, doch die wird überschattet von der vierten Welle der Corona-Pandemie. "Ohne Schonfrist" hat Anne Will ihre Sendung vom Sonntagabend genannt und will von ihren Gästen wissen: Reichen die Maßnahmen im neuen Infektionsschutzgesetz aus, um die vierte Welle zu brechen?

Schließlich sind mit der neuen Corona-Schutzverordnung von Ende November (24. November) harte Lockdown-Maßnahmen wie das Schließen von Schulen und Betrieben oder Ausgangsbeschränkungen gestrichen. Dabei ist die deutsche Impfquote im EU-Vergleich noch immer niedrig, Hilferufe kommen vor allem aus Sachsen. Braucht es doch einen kompletten Lockdown oder kann 2G die vierte Welle brechen?

Das sind Anne Wills Gäste

Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern Manuela Schwesig (SPD) erachtet den Instrumentenkasten, den die neue Corona-Schutzverordnung zur Verfügung stellt, als ausreichend. "Wir haben derzeit praktisch einen Lockdown für Ungeimpfte", sagte sie am Sonntagabend. Die neu eingeführte 3G-Regel am Arbeitsplatz motiviere nun viele Menschen dazu, sich doch noch impfen zu lassen. "Nicht alle Länder setzen die Maßnahmen aber gleich um", klagte Schwesig mit Blick auf volle Fußballstadien. Ihr Bundesland ergreife alle möglichen Maßnahmen. "Wir haben bereits Restaurants und Bars geschlossen, ich frage mich, warum das in anderen Ländern nicht auch geht", so Schwesig.

Fehler im Pandemie-Management gemacht zu haben, räumte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) ein. "Ich hätte klarer sein müssen bei 2G. Wir hätten 2G schon im Sommer diskutieren und in die Beschlüsse bringen müssen", gab der CDU-Politiker zu. Auch in Sachen Booster-Impfung hätte er nachdrücklicher sein müssen, für die rechtliche Debatte über das Ende der pandemischen Notlage habe er einen schlechten Zeitpunkt erwischt. "Es braucht jetzt kontaktreduzierende Maßnahmen", so Spahn. Es dürfe keine Großveranstaltungen mehr geben. "Das sind aber Entscheidungen der Länder vor Ort", betonte er.

"Das Boostern ist jetzt entscheidend. Wir müssen es mit mobilen Impfteams auf die Straße bekommen und Vorbereitungen für die Kinder-Impfungen treffen", forderte Grünen-Chefin Annalena Baerbock. Vor jeder Schule müssten Impfbusse bereitstehen. Probleme sieht die Parteivorsitzende derzeit noch in der Logistik. "Menschen stehen vier Stunden lang an zum Boostern und dann ist nicht genug Impfstoff da", kritisierte sie. Mit Blick auf Ungeimpfte müsse man "hart in die Kontaktbeschränkungen reingehen – auch im privaten Bereich", plädierte Baerbock.

Flächendeckende Lockdowns unbedingt verhindern will der designierte Finanzminister und FDP-Parteichef Christian Lindner. "Vom Lockdown geht ein enormer gesellschaftlicher Schaden aus", sagte er. Jeder der medizinisch verantwortbar eine Impfung verabreichen könne, solle dies in den nächsten Wochen auch tun. "In den Größen, wie jetzt die Stadien besetzt sind, geht das nicht", betonte auch Lindner.

"Das fatale Problem war, dass nie vorausschauend geplant wurde", kritisierte Journalistin Melanie Amann die Pandemiebekämpfungsstrategie der Regierung. Es habe nie an Expertenrat gemangelt, trotzdem habe niemand schnell und entschieden reagiert. "Auch die neue Regierung denkt nicht weit genug voraus", ist sich die Leiterin des "Spiegel"-Hauptstadtbüros sicher. Der Ampel-Koalition warf sie vor: "Wir sind in einer Notlage. Und die erste Amtshandlung von Ihnen ist, die pandemische Notlage abzuschaffen."

Das ist der Moment des Abends bei "Anne Will"

"Sie haben mehrfach gesagt, was jetzt alles passieren muss, das klang letzte Woche noch anders", konfrontiert Moderatorin Will Grünen-Chefin Baerbock, nachdem diese über den Einsatz von mobilen Impfbussen beim Boostern gesprochen hatte. Will erinnert Baerbock dann an ihr Interview in den "Tagesthemen". Gefragt nach weiteren nötigen Maßnahmen wie beispielsweise einer Impfplicht hatte Baerbock darin geantwortet: "Das besprechen wir jetzt gemeinsam in den nächsten zehn Tagen, weil wir nicht aus dem Blauen heraus handeln."

Will möchte daraufhin wissen: "Vertrauen Sie da Herrn Wieler und den anderen Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen nicht, dass man jetzt schon mehr tun muss, als bislang?" Baerbock entgegnet: "Nein, ganz und gar nicht" und rechtfertigt sich mit den 10 Tagen bis zur nächsten Ministerpräsidentenkonferenz, Entscheidungen vom Verfassungsgericht und einem neuen Expertengremium. Was sie damit aber abgibt: Ein weiteres Beispiel für den Mangel an schnellem und effektivem Handeln.

Das ist das Rede-Duell des Abends

Mehr als die Hälfte der Sendung ist schon gelaufen, da holt Journalistin Amann zum Angriff auf FDP-Chef Lindner aus. "Ganz besonders Sorge macht mir Ihre Partei, Herr Lindner", steigt sie ein und führt die Kommunikation von Marco Buschmann, dem parlamentarischen Geschäftsführer der FDP an. Der habe beim Entwurf des Infektionsschutzgesetzes davon gesprochen, es drohe keine systemische Überlastung des Gesundheitssystems mehr. "Dann musste er zurückrudern und hat gesagt, das habe man nicht voraussehen können", kritisierte Amann.

Lindner nahm ihn in Schutz: "Das Auftreten der neuen Variante hat niemand vorhergesehen." Es sei außerdem ein falscher Eindruck erweckt worden: "Das Aufheben der epidemischen Notlage bedeutet nichts mehr, als dass das Parlament wieder über wesentliche Grundrechtseingriffe entscheidet." Maßnahmen wie Ausgangssperren seien aus dem Gesetz gestrichen, aber "der Deutsche Bundestag ist voll handlungsfähig", so Lindner. Sollte es weitere Maßnahmen wirklich erfordern, sei das Parlament jederzeit in der Lage, diese zu verhängen. "Was braucht es denn noch für die Erkenntnis, dass diese Maßnahmen erforderlich sind?", legte Amann nach.

So hat sich Anne Will geschlagen

Moderatorin Anne Will ist bissig wie immer: "Meinen Sie wirklich, Sie hätten die ganze Zeit über nichts falsch gemacht?", fragt sie Gesundheitsminister Spahn beispielsweise gleich zu Beginn der Sendung. Auch als Ministerpräsidentin Manuela Schwesig ihr eigenes Krisenmanagement lobt, hat Will die entscheidenden Zahlen parat: "Sie haben die höchste Corona-Inzidenz seit Pandemiebeginn. Innerhalb von einer Woche ist Ihre Hospitalisierungsrate von 5,6 auf 9,8 gestiegen", erinnert sie Schwesig.

Was Will an diesem Abend nicht wirklich gelingt: Die Debatte voranzubringen, neue Erkenntnisse zu produzieren. Zu oft geht es darum, mit dem Finger auf andere zu zeigen oder Vergangenes aufzuarbeiten. "Es ist wirklich heute schwierig in der Sendung, dass die Dinge hier alle durcheinander gewürfelt werden", stellte auch SPD-Politikerin Schwesig fest.

Das ist das Ergebnis bei "Anne Will"

Ergebnis der Runde daher: Es gibt wenige Ergebnisse. Die zu Beginn der Sendung aufgeworfene Frage, ob die Maßnahmen im neuen Infektionsschutzgesetz ausreichen, wird nicht eindeutig beantwortet. Die Antwort auf die Frage, wie die vierte Welle gebrochen werden kann, wird von den Diskussionsteilnehmern auf künftige Bund-Länder-Treffen oder in den Verantwortungsbereich der Länder verschoben.

Wirklich Schwung bekommt die Debatte erst, als es um die rechtlichen Möglichkeiten für flächendeckende Lockdowns und die Empfehlungen seitens Virologen und der "Leopoldina" geht. Ungewöhnlich: Das Thema Impfpflicht wird an diesem Abend von keinem der Diskussionsteilnehmer thematisiert.

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