Es ist ein entsetzliches Verbrechen: Kindesmissbrauch. Dennoch schauen viel zu viele Menschen weg und genau das ist das Problem. Denn die Täter sind mitten unter uns und es sind mehr, als man denkt. Darüber und wie man Täter besser ermittelt und Kinder besser schützt, sprach Maybrit Illner am Donnerstagabend mit ihren Gästen. Es war eine Diskussion mit Kloß im Hals, aber eine umso wichtigere.
Es ist eine Zahl, die entsetzt: Jeden Tag werden laut Kriminalstatistik in Deutschland 43 Kinder Opfer sexueller Gewalt. Damit ist klar, dass die Fälle wie in Lügde oder Münster, die für Schlagzeilen sorgten, nur die Spitze des Eisbergs sind. "Missbrauchte Kinder – besserer Schutz, härtere Strafen?", fragt deshalb
Mit diesen Gästen diskutierte Maybrit Illner:
- Franziska Giffey (SPD), Bundesfamilienministerin
- Peer Brinken, Professor für Sexualforschung und Forensische Psychiatrie, per Video zugeschaltet
- Julia von Weiler, Vorstand "Innocence in Danger"
- Sebastian Fiedler, Bundesvorsitzender Bund Deutscher Kriminalbeamter
- Sonja Howard, Betroffenenrat des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs auf Bundesebene
- Herbert Reul (CDU), Innenminister Nordrhein-Westfalen, per Video zugeschaltet
Darüber diskutierte die Runde bei Maybrit Illner:
Die Opfer
Sonja Howard, die selbst als Kind über Jahre missbraucht wurde, macht gleich zu Beginn die Dimension des Problems klar: "Es ist wichtig, dass die Betroffenen, die darüber sprechen können, das auch tun. Und es ist wichtig, dass die Gesellschaft versteht, dass das keine Einzelfälle sind", erklärt Howard und es wird nicht nur einmal an diesem Abend deutlich, mit welchem Ausmaß wir es beim Missbrauch von Kindern zu tun haben.
Julia von Weiler erklärt, was die Opfer brauchen: "Ein Missbrauch verändert das Leben unwiederbringlich für immer. Es bleibt eine Narbe zurück", sagt von Weiler und konkretisiert das an anderer Stelle: "Das, was wir brauchen, ist ein Raum, wo die Betroffenen sich ausleben können. Ich warne aber davor, betroffene Menschen nur auf den Missbrauch zu reduzieren." Dies sei ein Stigma, von dem ihr Betroffene immer wieder berichten. Durch diese Opfer-Reduzierung würde man Betroffene nicht mehr in all ihren Facetten ernst nehmen.
Die Täter
Peer Briken gibt einen kleinen Einblick, mit welchen Typen von Täter wir es zu tun haben: "Der Großteil der Missbrauchstaten wird nicht von pädophilen Männern begangen, sondern aus anderen Gründen. Das kann das Ausüben von Macht sein oder eine antisoziale Haltung." Dem stimmt von Weiler zu: "Bei sexueller Gewalt geht es um Dominanz und Macht. Die sexuelle Handlung ist ein Machtinstrument."
Gleichzeitig erweitert von Weiler den Blick auf den Täterkreis: "Studien sagen, 10 bis 30 Prozent aller Taten werden von Frauen begangen. Auch in der Strafverfolgung gibt es noch blinde Flecken was Frauen angeht.
Härtere Strafen
"Härtere Strafen lösen das Problem nicht. Aber sie setzen ein klares Signal: Wir nehmen das nicht mehr auf die leichte Schulter", erklärt Herbert Reul über den Sinn von härteren Strafen und darüber, was man in NRW nun anders machen möchte.
Ob härtere Strafen wirklich jemanden von Kindesmissbrauch abhalten, blieb an diesem Abend offen, nicht aber, was das für die Betroffenen bedeuten würde, wie Howard erklärt: "Härtere Strafen sind definitiv notwendig. Denn die Kinder leiden ja nicht nur während der Tat, sondern oft ihr ganzes Leben lang. Da kann es nicht sein, dass die Täter mit einer Bewährungsstrafe davon kommen."
Die Hürden bei der Bekämpfung
Sebastian Fiedler macht schnell klar, dass die Liste der Hürden, um Täter zu überführen und Kinder besser zu schützen, lang ist, aber er nennt am Abend zahlreiche Beispiele wie dieses: "Wir haben viel zu viele unterschiedliche Institutionen. Es stellt sich die Frage: An wen wende ich mich, wenn ich Missbrauch entdecke?"
"Es ist letztlich auch eine Frage von Kapazitäten und personellen Ressourcen in den Jugendämtern", erklärt Franziska Giffey auf Illners Frage die Rolle der Jugendämter. Sebastian Fiedler ergänzt das um weitere Probleme wie die Vorratsdatenspeicherung, die Vernetzung von Kinderärzten oder die mangelnde Ausstattung von Europol.
Franziska Giffey erklärt, was in ihrem Ressort gerade alles in die Wege geleitet wurde und wird. Auch wenn das Klappern zum Politikhandwerk gehört, zeigt sich Sonja Howard zumindest einigermaßen zufrieden mit dem, was gerade passiert: "Im Großen und Ganzen geht es voran. Das Thema kommt immer mehr in die Politik. Meine größte Sorge ist die Gesellschaft: Da ist Wegschauen immer noch ein Thema."
Das sieht auch Herbert Reul so und nennt einen der Gründe, warum das so ist: "Es gibt Fälle, in denen Menschen sagen: Ich will niemand denunzieren. Wir haben das Problem nicht ernst genug genommen. Es wurde weggeguckt. Das Thema gehört mitten in die Gesellschaft." Wie sehr hingegen der Missbrauch bereits in der Gesellschaft ist, erklärt Julia von Weiler: "Die WHO geht von einer Millionen missbrauchter Kinder pro Jahr aus. Das bedeutet: Jeder von uns hat Kontakt mit betroffenen Kindern. Das bedeutet aber auch: Jeder hat Kontakt zu Tätern."
Die eindringlichsten Momente des Abends:
Über Kindesmissbrauch zu sprechen oder einer Diskussion darüber zuzuhören, ohne einen Kloß im Hals zu bekommen, dürfte angesichts der Unglaublichkeit der Verbrechen schwerfallen.
Umso bemerkenswerter, wie souverän Sonja Howard über ihren Missbrauch spricht und wie sachlich und klar sie erklärt, wie Missbrauch entsteht, welche Konsequenzen sie für die Täter fordert und welche Hilfe für die Opfer.
Der Hauruck-Moment des Abends:
Nun sind Polittalkshows in der Regel ein guter Ort, um als Politiker für sich und für die eigene Sache zu werben – noch dazu, wenn man ohnehin ein Mann der klaren Worte ist, wie Herbert Reul.
Doch bei diesem Thema merkt man Reul an, dass es hier nicht um irgendwelche strategischen oder öffentlichkeitswirksamen Parolen geht, sondern, dass es ihm aus vollem Herzen ernst ist: "Ich habe keine Lust mehr, mich an Debatten zu beteiligen, was alles hätte getan werden können. Wir haben zu lange weggeguckt. Wir werden bei uns in NRW keinen Millimeter mehr zurückgehen."
Die Botschaft des Abends:
Die Botschaft des Abends war eindeutig: Nicht die Polizei alleine kann das Problem lösen, auch nicht das Jugendamt, die Gerichte oder die Politik. So sehr es hier auf allen Ebenen Verbesserungen braucht, so sehr war der Abend ein Appell an alle, nicht wegzuschauen, sei es aus Angst, Scham, falsch verstandener Solidarität oder anderen Gründen.
Das Fazit:
"Darüber müssen wir auch noch sprechen", war vielleicht der Satz, der am häufigsten fiel in der Diskussion und er zeigt, auf wie vielen Ebenen es immer noch Probleme und Hindernisse gibt, um Missbrauch zu verhindern und zu bekämpfen. All das in einer einstündigen Diskussionsrunde unterzubringen, ist natürlich nicht möglich, aber es ist ein guter Schritt, dass überhaupt darüber gesprochen wurde.
Denn, auch das zeigte der Abend, Kindesmissbrauch wird noch immer viel zu wenig thematisiert und dadurch erst möglich, mindestens aber nicht verhindert. Von daher war die Runde bei Illner wichtig, damit, wie es Herbert Reul formulierte: "keiner mehr diesem Thema entkommt."
Wenn Sie selbst von sexueller Gewalt betroffen sind, wenden Sie sich bitte an das Hilfetelefon Sexueller Missbrauch 0800 22 55 530 (Deutschland), die Beratungsstelle für misshandelte und sexuell missbrauchte Frauen, Mädchen und Kinder (Tamar) 01 334 0437 (Österreich) beziehungsweise die Opferhilfe bei sexueller Gewalt (Lantana) 031 313 14 00 (Schweiz).
Wenn Sie einen Verdacht oder gar Kenntnis von sexueller Gewalt gegen Dritte haben, wenden Sie sich bitte direkt an jede Polizeidienststelle.
Falls Sie bei sich oder anderen pädophile Neigungen festgestellt haben, wenden Sie sich bitte an das Präventionsnetzwerk "Kein Täter werden".
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