Mit vielen Worten nichts gesagt: Auch nach der Erklärung von Beate Zschäpe, der Hauptangeklagten im NSU-Prozess, bleiben viele Fragen offen. "Das Skript einer zweitklassigen Soap", nennt es ein Opferanwalt in der Talksendung von Anne Will. Das Leid der Angehörigen der Opfer hat Zschäpe damit nur vergrößert.
248 Prozesstage hat Beate Zschäpe geschwiegen. Nun hat sie von ihrem Anwalt eine Erklärung verlesen lassen. An den zehn Morden, zwei Anschlägen und 15 bewaffneten Raubüberfällen, die dem Nationalsozialistischem Untergrund (NSU) vorgeworfen werden, will sie nicht beteiligt gewesen sein. Erst hinterher habe sie davon von den Tätern Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos erfahren.
53 Seiten umfasst Zschäpes Version der Geschichte. Dennoch: "Der Erkenntnisgewinn war gleich null", urteilt Clemens Binninger (CDU), Vorsitzender des zweiten NSU-Untersuchungsausschusses des Bundestags am Mittwochabend bei Anne Will. Doch warum hat sich die Hauptangeklagte im NSU-Prozess überhaupt so spät geäußert?
Gisela Friedrichsen, Gerichtsreporterin beim Spiegel, hält die Kehrtwende von Zschäpe für eine Inszenierung. Sie wolle menschlicher erscheinen. Einen ernsthaften Beitrag zur Aufklärung der Mordserie und eine aufrichtige Entschuldigung nimmt Friedrichsen ihr nicht ab.
Gerichtsreporterin: Beate Zschäpe weiß, was sie will
"Sie hätte jederzeit das Wort ergreifen können", stellt sie klar. Zschäpe sei auch bei der Erwähnung der Opfer und gegenüber den Angehörigen stets ungerührt und empathielos geblieben, selbst als ein Vater im Gericht nachstellte, wie er seinen toten Sohn gefunden habe.
Auch die Rolle des verängstigten und ohnmächtigen Hausmütterchens, als das sich Zschäpe in ihrer Erklärung beschrieb, hält die Gerichtsreporterin nicht für glaubwürdig. Im NSU-Prozess erscheine sie vielmehr wie eine Frau, die sehr genau weiß, was sie will. Immer wieder versuchte sie ihren Willen durchzusetzen. Spätestens nach dem ersten Mord habe Beate Zschäpe die Möglichkeit gehabt, die weiteren Morde zu stoppen, meint Friedrichsen.
Mehmet Gürcan Daimagüler ist ein Anwalt der Nebenklage. Er nennt Zschäpe eine "hochmanipulative Person". Nachdem die Strategie des Schweigens keinen Erfolg hatte, habe sie es nun auf anderem Weg versucht. Mit ihrer Erklärung habe sie aber niemandem genutzt, weder sich selbst noch den Angehörigen der Opfer, die endlich Antworten auf ihre Fragen finden wollen. Vor allem auf die wichtigste: Warum musste mein Bruder, Vater, Sohn sterben?
Zschäpes Worte erinnern Daimagüler an das "Skript einer zweitklassigen Soap". Sie habe zwar eine moralische Schuld eingeräumt, verweigert aber den Angehörigen, ihr Fragen zu stellen. Zudem habe sie nur das zugegeben, was ihr ohnehin nachgewiesen werden kann oder verjährt ist. Im Vergleich dazu habe sich der ebenfalls angeklagte Carsten S. wirklich gestellt und Anteilnahme gezeigt.
Der NSU muss Helfer gehabt haben
Interessant sei an Zschäpes Aussage vor allem das, was sie nicht gesagt hat. Sie nannte keine Namen von Neonazis - nur von V-Leuten, die in der Szene als Verräter gelten, hebt Daimagüler hervor.
Schützt Zschäpe damit weitere Helfer? Wer hat die Terrororganisation unterstützt? Gibt es den NSU womöglich immer noch? Keiner von Anne Wills Gästen glaubt, dass Böhnhardt und Mundlos allein und auf eigene Faust mordeten.
Günther Beckstein, früherer bayerischer Ministerpräsident und Innenminister, hält die Auswahl der Opfer quer durch Deutschland nicht für Zufall. Die Täter müssten Ortskenntnisse gehabt haben, darauf gebe es viele Hinweise.
Wie konnte der NSU überhaupt so lange ungehindert morden? Auch diese Frage stellt sich seit dem Bekanntwerden des NSU immer wieder. In der Sendung am Mittwochabend war sie die umstrittenste.
Welche Fehler haben die Behörden begangen?
Opferanwalt Daimagüler will unglückliche Umstände allein nicht gelten lassen. Er wirft den Behörden Ignoranz und institutionellen Rassismus vor. Neun der zehn Mordopfer haben ausländische Wurzeln. Ein türkisches Opfer werde nicht als Opfer anerkannt, sondern zunächst als Täter angesehen, sagt Daimagüler. Das Problem werde unterschätzt, äußert er scharf in Richtung Beckstein.
Es sei in allen Richtungen ermittelt worden, verteidigt sich der Ex-Innenminister. In Bayern sei auch die lokale rechtsextreme Szene und mögliche Täter überprüft worden. Beckstein räumt aber ein, dass "Strukturen geändert" werden müssen – wie etwa ein höherer Anteil von Polizisten mit Migrationshintergrund.
Binninger vom NSU-Untersuchungsausschuss warnt davor, fremdenfeindliche Einstellungen einzelner Beamter auf die ganze Polizei zu übertragen. Er bestätigt, dass nach den Anschlägen vorschnell in die falsche Richtung ermittelt wurde. Noch bis 2010 wurde die organisierte Kriminalität als Hintergrund für die Morde vermutet. Gegen die Angehörigen sei viel zu lange und in einer nicht vertretbaren Art und Weise ermittelt worden.
Ein rechtsextremes Motiv sei auch untersucht worden, betont er. Der Verfassungsschutz habe aber den gewaltbereiten Rechtsextremismus noch in den 1990er Jahren und zu Beginn der 2000er Jahre "kolossal unterschätzt".
Viele Fragen bleiben offen – für immer?
In Köln wäre eine frühere Aufklärung möglich gewesen – hätte man die Datenbank richtig abgefragt. Aber auch der Föderalismus, die mangelnde Zusammenarbeit der fünf betroffenen Bundesländer, habe seinen Teil dazu beigetragen. "Es gibt nicht die eine Ursache, den einen Fehler", fasst Binninger zusammen.
Die Hoffnung, dass eine Aussage von Beate Zschäpe neue Erkenntnisse bringen wird, hat sich zerschlagen. Es ist zweifelhaft, ob die vielen offenen Fragen um den NSU jemals beantwortet werden. "Ich kenne kein Strafverfahren, in dem alles lückenlos aufgeklärt wurde", sagt Friedrichsen pessimistisch.
Dennoch muss Zschäpe einen fairen Prozess bekommen – so zäh und mühsam es auch sein mag. Daimagüler begrüßt deswegen auch Neonazis unter den Gerichtszuschauern: "Die sollen sehen, dass sich dieser Rechtsstaat von niemandem in die Knie zwingen lässt."
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