Schlechte Leistung, fehlende Motivation und zunehmende Gewaltbereitschaft: Bei "Markus Lanz" ging es am Mittwoch vor der Weihnachtspause um den Pisa-Schock, "Bildung pur" und den Ist-Zustand des deutschen Schulsystems.
Lesen, schreiben, rechnen – deutsche Schülerinnen und Schüler schneiden nicht nur bei diesen Fähigkeiten schlecht ab. Selbst die Motivation lässt zu wünschen übrig. Das ergab die Pisa-Studie 2022, die im Juni 2024 veröffentlicht wurde. Und auch andere Studienergebnisse zeigen, dass eine Debatte über die Zukunft des deutschen Bildungs- und Schulsystems dringend notwendig ist – nicht nur bei "
Das war das Thema bei "Markus Lanz"
Nicht genügend: Laut den Zahlen von Pisa 2022 steht es um das deutsche Schul- und Bildungssystem so schlecht wie nie zuvor. Drei von zehn Schülerinnen und Schüler im Alter von 15 Jahren verfehlen in Mathematik die Mindestanforderungen, im Lesen sind es 25 Prozent. Im Vergleich zur Pisa-Studie 2018 entspricht der Rückgang dem durchschnittlichen Lernfortschritt eines ganzen Schuljahres. Das Ergebnis ist ein Armutszeugnis für das "Hochindustrieland Deutschland", stellte Markus Lanz fest und fragte – selbst sichtlich entsetzt – in der vorletzten Sendung des Jahres Lehrer, Schulleiter und Bildungsforscher nach Gründen und möglichen Lösungen.
Das waren die Gäste
- Silke Müller, Leiterin der Waldschule Hatten und Digitalbotschafterin Niedersachsens: "Jeder Euro, den wir in die Kita investieren, bringt viel mehr Rendite, als der Euro, den wir in der Schule oder nach der Schule investieren."
- Steffen Sibler, Grundschulleiter in Berlin-Kreuzberg: "Da unsere Schule in einem der ärmsten Einzugsgebiete der Stadt ist, haben wir schon jetzt zusätzliche Ressourcen, aber Kontinuität ist wichtig: Wir bauen auf, stellen tolle Leute ein, starten tolle Projekte und die müssen aber auch mittel- und langfristig erhalten bleiben."
- Olaf Köller, Bildungsforscher am IPN (Leibniz-Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik) Kiel: "Die Kunst ist, aus den Augen der Kinder zu unterrichten, nicht der der Erwachsenen."
- Bob Blume, Podcaster und Gymnasiallehrer, zu den Problemen im Bildungssystem: "Wir müssen gerade eine Propellermaschine umbauen in einen Düsenjet, weil wir im 21. Jahrhundert ankommen wollen, aber unsere Tragflächen brennen und die Piloten fehlen."
Das war der Moment des Abends bei "Markus Lanz"
Als "brave Lehrerin in einer Bildungssendung" hatte Silke Müller, Leiterin der Waldschule Hatten und Digitalbotschafterin Niedersachsens, selbstverständlich einen Spickzettel parat. Diesen zückte sie, um der versammelten Runde Zahlen aus aktuellen Studien vorzulesen – und die hatten es wahrlich in sich: Ein Fünftel aller Kinder leidet laut Kinder- und Jugendgesundheitsstudie (KiGGS) des Robert Koch-Instituts unter psychologischen Auffälligkeiten. Die aktuelle COPSY-Studie (Anm. d. Red.: Corona und Psyche) zeigte, dass 21 Prozent aller Sieben- bis 17-Jährigen einsam sind, 21 Prozent von einer geminderten Lebensqualität sprechen und 30 Prozent der Kinder belastende Inhalte bei Social Media sehen.
Zudem hätten BITKOM zufolge im letzten Monat 58 Prozent der Zwölf- bis 19-Jährigen Fake News gesehen, 51 Prozent beleidigende Kommentare, 41 Prozent radikale politische Ansichten, 40 Prozent Verschwörungstheorien, 39 Prozent Hassbotschaften, 30 Prozent pornografische Inhalte – und ebenso viele hätten sexuelle Belästigungen erlebt. "Und wenn laut ICLE-Studie (Anm. d. Red.: eine Art Computer-Pisa) 40 Prozent der Kinder in der 8. Klasse nichts anderes können als wischen, dann wird mir echt schlecht", sprach die Pädagogin wohl so manchem aus der Seele, "dann frage ich mich, wie reagieren wir im Schul- und Bildungssystem auf die Not dieser Kinder".
Neu seien diese Probleme und Herausforderungen nicht, verwies Olaf Köller, Bildungsforscher am IPN. Schon im Jahr 2000, als in der Pisa-Studie ebenfalls sehr schlechte Werte erzielt wurden (Stichwort: Pisa-Schock), habe man Maßnahmen ergriffen und versucht, "die Schule stärker als Erziehungsort" aufzubauen. Allerdings hätte man sich nicht genügend auf die veränderte Schülerschaft – ein höherer Anteil aus armutsgefährdeten Familien und solchen, von denen nicht Deutsch die Muttersprache sei – vorbereitet: "Wir haben seit zehn Jahren versäumt, uns wirklich um die zu kümmern, die immer mehr werden und die es besonders schwer im System haben", lautete sein Urteil, "und die Quittung haben wir spätestens mit Pisa 2022 bekommen".
Das System könnte allerdings nicht von heute auf morgen reagieren. Mit dem Startchancen-Programm würde die Bundesregierung aber bereits Schulen mit einem hohen Anteil an sozial benachteiligten Schülerinnen und Schülern stärken. Es brauche Zeit, denn "Schulpsychologen und Sozialarbeiter wachsen nicht auf Bäumen".
"Das haben wir", betonte Steffen Sibler, Grundschulleiter in Berlin-Kreuzberg und damit einer dieser geförderten Brennpunktschulen, "und die will ich vor allem behalten", plädierte er für langfristige Lösungen. Denn "wir bauen auf, engagieren tolle Leute, starten tolle Projekte – die müssen aber auch mittel- und langfristig erhalten bleiben". Auch Sibler hatte sich gut vorbereitet und in einem Interview mit Köller gelesen, dass das Startchancen-Programm mehr finanzielle Mittel brauche. "Ein kluger Mann, kann ich nur sagen", erntete sein Kommentar Gelächter.
Das war das Rede-Duell des Abends
Da war der gut informierte Lanz in die eigene Falle getappt: Australien hätte mit großem Erfolg mobile Endgeräte für unter 16-Jährige verboten, kam er auf das Thema Medienkompetenz zu sprechen. Dass 74 Prozent der deutschen Eltern ebenfalls für eine solche Lösung wären, es aber keine gesellschaftliche Debatte gebe, wunderte ihn.
"Wir haben die Debatte, aber unter dem Radar", widersprach Müller. "Auch in einzelnen Bundesländern wird ein Handyverbot diskutiert, aber nicht Social Media", präzisierte Köller. "Da bin ich drauf reingefallen", gab Lanz zu und verwies darauf, dass Medienerziehung Aufgabe der Schule sei. "Keine neue", zog er den Vergleich zu TV und Gewaltfernsehen.
"Jetzt streiten wir, dabei wollten wir uns nicht streiten", widersprach Müller. Von einem echten "Streit" konnte keine Rede sein. Sie verwies bloß darauf, dass Social Media zum Produzieren, TV hingegen zum Konsumieren verführe. Sonst waren sich die Experten über die Notwendigkeit einer Debatte einig.
Jedenfalls alle bis auf einen. "Dem möchte ich grundsätzlich widersprechen", konterte Bob Blume. Für ihn ging die Debatte zu kurz: "Wir haben 50.000 SchülerInnen im Jahr, die die Schule ohne Abschluss verlassen und ins Sozialsystem gehen. Wir haben 85.000 fehlende Lehrkräfte", hatte auch er Zahlen auf Lager. Pädagogen hätten keine Zeit auf die Toilette zu gehen, Schulgebäude zerfielen, Schulen hätten einen Investitionsstau von 45 Milliarden Euro – "aber die Grundsatzdebatte, wie wir Bildung in Deutschland gestalten, findet nicht statt", empörte er sich.
Lanz hatte dafür nur bedingt ein Ohr offen. "Wir können nicht jedes Problem lösen", so wollte er lieber darüber sprechen, wie es sein könne, dass 30 Prozent der Kinder nicht richtig rechnen könnten.
So hat sich Markus Lanz geschlagen
"Altmodisch" und als "Western von gestern" – charmante Bezeichnungen hatte Markus Lanz an diesem Abend vor allem für sich selbst parat. In der Debatte ums deutsche Bildungssystem schwelgte er offensichtlich nicht nur immer wieder in Erinnerungen an seine eigene Schulzeit ("so richtig motiviert war ich nicht"). Die Zuschauerinnen und Zuschauer konnten zudem ahnen, wie Lanz in Erziehungsfragen tickt. Strenge und Disziplin ließ er nämlich auch in der Diskussion walten und lenkte die Debatte auf die Aspekte, die ihm am wichtigsten erschienen: Social Media, Sprache und die drohende Verrohung der Gesellschaft.
Das war das Fazit bei "Markus Lanz"
Starke Zuwanderung, erhöhtes Armutsrisiko, zunehmende Gewaltbereitschaft – neben hausgemachten Problemen des Bildungssystems zeigen sich gesellschaftliche Herausforderungen in der Lebenswelt Schule besonders stark. Zwar dürfe man "Schule nicht überfordern", wie Bildungsforscher Olaf Köller warnte. Lösungen seien angesichts der wachsenden Herausforderungen dennoch weiterhin gefragt. Und eines dürfe nicht vergessen werden: "Wir können all das gesellschaftlich nur lösen, wenn wir uns alle verantwortlich fühlen", betonte Silke Müller, Leiterin der Waldschule Hatten und Digitalbotschafterin Niedersachsens: "Natürlich Elternhäuser, natürlich die Schule, natürlich die Politik und Medien, die endlich mal über Bildung pur berichten wie der Ist-Stand da ist." Letzteres hat Markus Lanz mit dieser vorletzten Sendung im Jahr 2024 getan.
Korrektur: In einer früheren Version dieses Artikels wurden zwei Angaben aus der Sendung nicht korrekt wiedergegeben. Zum einen bezifferte Bob Blume den Investitionsstau an Schulen mit 45 Milliarden Euro (nicht, wie zuvor genannt, 75 Millionen Euro). Zum anderen zitierte Silke Müller aus der aktuellen COPSY-Studie, dass 21 Prozent aller Sieben- bis 17-Jährigen (nicht, wie zuvor im Text genannt, 71 Prozent) einsam sind. © 1&1 Mail & Media/teleschau
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