Was macht man eigentlich mit 100 Milliarden? So simpel der Blick auf das Sondervermögen für die Bundeswehr scheint, so sehr trügt der Blick. Denn, wie die Diskussion über die Zeitenwende am Sonntagabend bei "Anne Will" zeigte, geht es hier um mehr als nur um Bestellungen von Panzern und Stiefeln. Es geht auch um politischen Willen, Durchhaltevermögen und die Frage, was das für all die anderen Krisen bedeutet.
Die Themen des Abends:
"Rüsten für den Frieden – Welche Lehren zieht Deutschland aus der Zeitenwende?" -
Mit diesen Gästen diskutierte Anne Will:
- André Wüstner. Der Vorsitzende des Bundeswehrverbandes sieht eine prekäre Situation bei der Bundeswehr insbesondere bei der Infrastruktur und beim Material. Die eigentliche Zeitenwende sei bereits bei der Annexion der Krim erfolgt, so Wüstner. Aber "im Endeffekt hat man es politisch nicht umgesetzt." Die Mehrheit in den Bundestagsfraktionen habe trotz der Warnungen von Experten geglaubt: "Es kann nicht sein, was nicht sein darf." Mit Blick in die Zukunft fragt Wüstner: "Verstehen es jetzt alle oder fängt man wieder an zu träumen?" Die Probleme nur innerhalb der Bundeswehr, etwa bei der Beschaffung, zu suchen, sei zu einfach. Für Wüstner ist klar: "Grundsätzlich fehlt der politische Wille." Daher sei er froh, dass
Boris Pistorius nun die richtigen Worte wählt und die richtigen Forderungen stellt. Ralf Stegner (SPD). Stegner ist Mitglied des Auswärtigen Ausschusses. Er drängt darauf, die Lösung des Krieges nicht aufs Militärische zu verengen. Über das Geld, das für eine bessere Ausstattung der Bundeswehr ausgegeben werden soll und eventuell andernorts fehlt, sagt Stegner: "100 Milliarden sind kein Pappenstiel. Jetzt gibts natürlich eine Debatte und da darf man nicht äußere Sicherheit gegen innere Sicherheit oder gegen soziale Sicherheit ausspielen, weil wir nämlich auch eine Demokratie sind."- Gerhart Baum (FDP). Der ehemalige Innenminister meint in Bezug auf Russland: "Die Gefahren wurden unterschätzt." Mit Blick auf Kriege und Konflikte schätzt Baum Deutschlands Einstellung in der Vergangenheit so ein: "Ich habe das Gefühl, die Deutschen halten sich mitunter gerne raus." Von der aktuellen Regierung fordert Baum angesichts der vielen Krisen weniger Streit und mehr klare Führung. Zudem müsse Europa zwischen dem globalen Süden, den USA und China seine Rolle finden und einnehmen.
- Hedwig Richter. Richter ist Professorin für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität der Bundeswehr in München. Sie kritisiert die Kommunikation der anstehenden Herausforderungen seitens der Politik: "Politik muss heute viel, viel deutlicher sagen, was Habeck mal kurz gewagt hat: Es werden Zumutungen auf uns zukommen." Rückblickend sagt Richter über die deutsche Sicherheitspolitik: "Wir haben das lange nur über den Geldbeutel geregelt. Die Zeit, dass wir uns bequem zurücklehnen und es die anderen machen lassen, dass die USA für unsere Sicherheit da sind, die ist vorbei."
- Nicole Deitelhoff. Deitelhoff ist Politikwissenschaftlerin und geschäftsführendes Vorstandsmitglied des Leibnitz-Instituts Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung. Sie kritisiert den von André Wüstner verwendeten Begriff der "Kriegswirtschaft", weil er für ein Modell stehe, "in dem die gesamte Volkswirtschaft den Erfordernissen des Krieges untergeordnet ist." Zudem wecke er Vermutungen der Kriegstreiberei bei Menschen, die ohnehin skeptisch gegenüber einer Unterstützung der Ukraine seien.
Der Schlagabtausch des Abends, Teil I:
Bereits als Hedwig Richter aufzählt, welche Versäumnisse sich die Politik trotz mahnender Worte von Experten in den vergangenen Jahre geleistet hat, reagiert Ralf Stegner etwas schnippisch: "Die Experten wissen alles besser, das weiß ich schon." Als Richter ihre Gedanken weiter ausführt, unterbricht Stegner noch einmal: "Es ist auch nicht nur die Politik und die Wissenschaft weiß alles besser. So einfach ist es nämlich nicht."
Richter fährt fort und erklärt, dass die Herausforderungen für die Menschen angesichts der Klimakrise noch viel größer seien. Da meint Stegner: "Man darf auch nicht so tun, als ob die Wissenschaft wüsste, was zu tun ist und die Politik ist zu dumm."
"Das ist eine Scheindebatte", unterbricht diesmal Richter. Stegner bringt seinen Gedanken zu Ende: "Es sind immer Abwägungsprozesse." Stegner argumentiert mit der Abhängigkeit von Russland, die ein Fehler gewesen sei, aber gleichzeitig habe Trump auf der anderen Seite mit Sanktionen gedroht. Da geht Richter dazwischen: "Dafür ist Politik da, weitsichtig zu sein!"
Der Schlagabtausch des Abends, Teil II:
Beim zweiten größeren Schlagabtausch steht wieder Stegner im Ring, diesmal ist sein Gegner aber André Wüstner. Für langfristigen Frieden müsse man wieder mehr in Abschreckung investieren, meint Wüstner und kritisiert dann: "Alle reden über das Sondervermögen wie die Blinden über Farben." Er müsse vielen im Parlament erklären, wofür sie selbst zugestimmt haben. Man solle deshalb doch bitte den Wirtschaftsplan zum Sondervermögen lesen.
Da versucht es Stegner mit einer Ablenkung: "Dass Sie als Vorsitzender des Bundeswehrverbandes werben, dass möglichst viel Geld eingesetzt wird, das versteh ich gut. Aber wie sie das Parlament darstellen, dem kann ich überhaupt nicht zustimmen."
"Haben Sie den Wirtschaftsplan gelesen?", kontert Wüstner, doch Stegner lenkt wieder ab: "Ich bin nicht im Verteidigungsausschuss." Wüstner reicht das nicht als Ausrede: "Wir haben Krieg in Europa und Sie sagen mir dann: Nur die Verteidigungspolitiker sollen sich zum Sondervermögen auskennen?"
Das habe er nicht gesagt, entgegnet Stegner, Wüstner habe vom Wirtschaftsplan gesprochen. "Der liegt ja hinter dem Sondervermögen!", lässt Wüstner nicht locker, doch Stegner macht lieber ein neues Thema auf.
So schlug sich Anne Will:
Dieser Schlagabtausch zwischen Stegner und Wüstner war ein bisschen beispielhaft für Anne Wills Agieren an diesem Sonntagabend. Denn zum einen lässt sie Stegner mit seinen Ablenkungen davon kommen, zum anderen darf im Anschluss Gerhart Baum das Wort ergreifen und die Diskussion in wieder eine andere Richtung führen. Und so wundert es nicht, dass die Diskussion häufiger, als es ihr gut täte in ein wildes Durcheinander-Gerede mündete, das Will erst einmal wieder gebändigt bekommen musste.
Das Fazit:
Dieses Durcheinander dürfte auch im Kopf manches Zuschauers noch nachhallen. Denn tatsächlich wurden am Sonntagabend einige interessante Aspekte aufgeworfen, etwa die Frage nach dem politischen Willen, die Bundeswehr auch langfristig besser auszustatten. Mit der damit verbundenen Frage, was das Sondervermögen für die anderen, mindestens genauso wichtigen Vorhaben wie der Kampf gegen die Klimakrise, die Agrarwende, die Mobilitätswende oder eine bessere Bildung weiter bedeutet, ging die Diskussion sogar einen Schritt weiter, als man – und wahrscheinlich auch Anne Will und ihr Team – vorher gedacht hätte.
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