Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) will keine deutschen Taurus-Marschflugkörper an die Ukraine liefern. Dafür musste er bei Maybrit Illner viel Kritik einstecken – sogar aus der eigenen Partei. Ex-Diplomat Wolfgang Ischinger forderte gegenüber Moskau einen radikalen Strategie-Wechsel.
Die Ukraine gerät immer stärker unter Druck. Soldaten, Munition und Zeit werden im nun schon zwei Jahre andauernden Krieg gegen Nachbarland Russland allmählich knapp. In dieser Situation hat Frankreichs Präsident Emmanuel Macron die Entsendung von westlichen Bodentruppen für die Ukraine ins Spiel gebracht.
Deutschlands Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) lehnt das strikt ab. Eine gemeinsame Linie der Europäer zur Ukraine ist nicht vorhanden, stattdessen streiten zwei der wichtigsten Länder auf offener Bühne. Der Kreml dürfte sich die Hände reiben. Das Thema bei
Das waren die Gäste bei Maybrit Illner
- Michael Roth (SPD): Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag sprach nach dem Streit zwischen Macron und Scholz von einer "ganz und gar schrecklichen Woche" für die "Ukraine und für uns". Besonders ärgert Roth die Debatte um Bodentruppen, weil "niemand" in der Ukraine sie wolle. Benötigt werde stattdessen Nachschub an Waffen, besonders Artilleriemunition. Roth äußerte sich auch zur Absage des Kanzlers, Taurus-Raketen an die Ukraine zu liefern. "Ich komme nach Abwägung aller Risiken und vor allem aller Vorteile zu einer anderen Beurteilung als der Bundeskanzler. Aber der Bundeskanzler muss das entscheiden und der Bundeskanzler muss das verantworten." Roth nahm den Kanzler aber auch in Schutz gegen übertriebene Kritik: "Unser Gegner sitzt nicht im Kanzleramt, unser Gegner sitzt im Kreml." Dem russischen Imperialismus müsse ein Stoppschild aufgestellt werden.
- Wolfgang Ischinger: Der Ex-Diplomat wies trotz des Macron-Scholz-Streits auf den Erfolg der Ukraine-Konferenz in Paris hin. Viele EU-Länder wollen nun Munition für die Ukraine auch im außereuropäischen Ausland einkaufen. "Ich sehe überhaupt keinen Anlass, in Depressionen zu verfallen", sagte Ischinger. Die Unterstützer Kiews würden sich nun "berappeln".
- Marina Weisband: Die deutsch-ukrainische Publizistin bemängelte die fehlende Strategie des Westens gegenüber der Ukraine. Und die mangelnde "kommunikative Ehrlichkeit". Es wäre ehrlicher, zu sagen, dass man nur bis zu einem bestimmten Punkt unterstützt, als das Land so hinzuhalten. Putin verfolge dagegen eine Strategie des "langen Atems". Wenn es so weitergeht, so Weisbands Schreckensszenario, marschiert Russland bis zum Dnjepr durch und besetzt alle Gebiete östlich des Flusses. "Die Menschen in der Ukraine hoffen immer noch auf den Sieg", betonte sie. Es gebe keinen anderen Ausweg.
- Carlo Masala: Der Militärexperte fand, dass Macrons Bodentruppen-Vorstoß aus dem Kontext der Konferenz gerissen worden sei. Dort habe man nämlich darüber nachgedacht, was für Aufgaben westliche Truppen in der Ukraine übernehmen könnten, beispielsweise Grenzsicherung oder Entminung. "Der Satz alleine ist meines Erachtens aber gar nicht mal so dumm, weil er ein zentrales Prinzip der Kriegsführung beherzigt", ergänzte Masala. "Nämlich: Sag deinem Gegner nie, was du nicht tun wirst". Dennoch hätte Macron sich mit den Deutschen, Briten und Amerikanern verständigen sollen. Hinsichtlich
Scholz' Taurus-Absage gab Masala zu Bedenken, dass der Westen für Putin schon Kriegspartei ist. Völkerrechtlich sei es hingegen umstritten, ob Deutschland zur Kriegspartei wird, wenn deutsche Soldaten den Ukrainern bei der Zielerfassung mit den Taurus-Raketen (von Deutschland aus) einzelne Ziele genehmigen oder verbieten. Gegen eine Kriegsbeteiligung spricht laut Masala, dass die Kommandokette immer noch in der Ukraine liege. Aber: "Für den Kanzler ist das der Ritt auf der Rasierklinge, den er vermeiden will." - Nicole Deitelhoff: Die Friedens- und Konfliktforscherin ist überzeugt, dass Putin in der Ukraine aufgehalten werden muss. Sonst müsse man ihn später an den Grenzen der Nato stoppen. "Dann haben wir vielleicht den Bündnisfall. Und das wird noch viel teurer sein. Das muss man offen diskutieren." Das Verhalten des Bundeskanzlers gegenüber der Ukraine empfindet Deitelhoff als "konsistent". Scholz habe immer gesagt: "Er will alles dafür tun, damit Deutschland und die Nato nicht Konfliktparteien werden (…). Das macht er bis zum heutigen Tag." Also auf Sicht fahren, schauen, was möglich ist und wenn das Risiko nicht zu groß erscheint, mehr Waffen liefern.
- Schanna Borissowna Nemzowa: Die Journalistin und Tochter des ermordeten russischen Oppositionellen Boris Nemzow bescheinigte dem Regime Putins, "immer diktatorischer" zu werden. Die Repressionen glichen jenen zu stalinistischen Zeiten, sagte sie. Der Krieg gegen die Ukraine werde trotzdem immer weniger populär. Sie glaubt, dass eine weitere Mobilmachung in Russland Putin schwächen würde. Deswegen müsse der Westen die Ukraine weiter unterstützen. "Ich weiß nicht, vor was Olaf Scholz Angst hat", sagte Nemzowa über den manchmal zögernden deutschen Kanzler. Vielleicht habe er Angst vor einem Atomkrieg, was sie für nicht sehr wahrscheinlich hält.
Das war der Moment des Abends
Marina Weisband appellierte an den Westen, den Drohungen aus dem Kreml nicht nachzugeben. Das Baltikum könnte nach der Ukraine das nächste Ziel sein und es gebe dafür schon ein Programm, welches vorgezeichnet sei. "Weil er (Putin, Anm. d. Red.) genau weiß, sobald er eine Atombombe erwähnt, dass ganz Europa die Füßchen hochklappt und gar nichts tut". Weisband kritisierte, dass die oberste Priorität in Deutschland darin zu bestehen scheint, nicht Kriegspartei zu werden. "Genau das wird uns gegenüber einem Verbrecher zur Kriegspartei machen."
So hat sich Maybrit Illner geschlagen
Bei allem Verständnis für eine empathische Haltung gegenüber der brutal angegriffenen Ukraine verließ Maybrit Illner in dieser Sendung etwas zu häufig ihre Rolle als neutrale Moderatorin. Erst sprach sie davon, dass der russische Oppositionelle Alexej Nawalny in Haft "ermordet" wurde, obwohl das bislang nicht erwiesen ist (und die tatsächliche Todesursache wohl auch nie ans Licht kommen wird).
Später sprach sie davon, dass es bei der stärkeren Unterstützung für die Ukraine in Deutschland "keine zögernde Bevölkerung" gebe. Nicole Deitelhoff fügte hinzu, dass es dabei unterschiedliche Umfrageergebnisse europaweit dazu gibt.
Das ist das Fazit
Wolfgang Ischinger schlug vor, den Spieß gegenüber Putin umzudrehen und die Asymmetrie in der (psychologischen) Kriegsführung aufzulösen. Während der russische Machthaber mit Atomwaffen droht, wird auf der Gegenseite vor allem viel ausgeschlossen. So könnten die Ukraine-Unterstützer Putin wissen lassen, dass bei einem weiteren Angriff auf einen Wohnblock noch schwerere Waffen geschickt werden. Marina Weisband nickte während der Aussagen und zeigte Gesten der Zustimmung.
Zudem schlug Ischinger wie schon Carlo Masala vor, gegenüber Putin militärisch "möglichst gar nichts auszuschließen". Nein, man müsste ihm, wie Ronald Reagan es in den 1980er Jahren gegenüber Michael Gorbatschow getan hat, vielmehr mitteilen: "Wir können euch in Grund und Boden rüsten." Die wirtschaftliche Macht in der EU würde das zulassen, wenn es gewollt wäre.
In den Augen Carlo Masalas sollten die Ukraine-Unterstützer endlich ein klares Kriegsziel definieren. Soll Russland diesen Krieg verlieren? Oder soll es ihn nur nicht gewinnen? Soll die Ukraine gewinnen? "Wir wissen seit anderthalb Jahren, dass Artilleriemunition fehlt", bemängelte der Experte. "Das ist anderthalb Jahre verlorene Zeit." Er nannte es einen Fehler der mangelnden Strategie, dass Russland jetzt wieder Städte in der Ukraine zurückerobern kann. Sein bitteres Fazit: "Dieses Jahr 2024 wird ein extrem kritisches Jahr für die Ukraine."
Michael Roth gab den Europäern und auch seinem Kanzler Olaf Scholz schließlich noch eine wichtige Botschaft mit: "Wir sollten uns nicht weiter streiten, sondern zusammenraufen." Dann hat die in die Defensive geratene Ukraine vielleicht noch eine Chance, in diesem Krieg nennenswerte Gebiete zurückzuerobern.
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.