Chemnitz wird zum Talkshow-Dauerbrenner: Wie schon einige ihrer Kollegen diskutierte am Sonntagabend auch Anne Will mit ihren Gästen über die rechten Ausschreitungen. Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer verteidigte die sächsische Polizei vehement - und untermauerte so letztendlich ausgerechnet die Argumente der Kritiker.
Was war das Thema?
Nach dem Tod eines 35 Jahre alten Mannes vor einer Woche kam es in Chemnitz zu Demonstrationen und gewalttätigen Ausschreitungen von Hooligans und Neonazis. In der drittgrößten Stadt Sachsens herrscht seitdem Ausnahmezustand.
Die einen sehen das Problem in dem Tötungsdelikt, das mutmaßlich auf das Konto eines Asylbewerbers geht, die anderen in den Angriffen der rechten Demonstranten gegen Ausländer, Journalisten und Gegendemonstranten.
Was folgt aus Chemnitz? Wie braun ist der Osten? Und ist
Wer waren die Gäste?
Olaf Sundermeyer: Der Rechtsextremismus-Experte war selbst in Chemnitz zugegen. Er hat eine Deutungshoheit der Rechten und eine überforderte Polizei beobachtet.
Gleichzeitig lobte er, die sächsische Polizei habe aus ihren "drastischen Fehlern" im Umgang mit Journalisten gelernt. In der Vergangenheit nämlich, berichtete Sundermeyer, habe er bei den Beamten im Freistaat ein Verhalten gegenüber den Medien erlebt, das "einzigartig in Deutschland" gewesen sei. Teile der Polizei hätten eine "deutliche Zuwendung zu rechten Demonstranten" gezeigt und zum Teil eine regelrechte "Medienfeindlichkeit" an den Tag gelegt.
Petra Köpping: Die sächsische Integrations- und Gleichstellungsministerin (SPD) wehrte sich gegen Pauschalisierungen, nach denen alle Sachsen rechts seien, und forderte mehr Verständnis für die Lebenssituation der Ostdeutschen.
Sie treffe bei Bürgergesprächen auf Menschen aus Familien, bei denen am Morgen nur ein Mensch aus dem Haus gehe: das Kind, berichtete sie.
Diese Erklärung für die Fremdenfeindlichkeit griff allerdings etwas zu kurz, denn Sachsen gilt mit seiner geringen Arbeitslosenquote als ostdeutsches Musterland.
Wolfgang Thierse: Der frühere Bundestagspräsident (SPD) gab den staatsmännischen Mahner. Er sprach von einer "schlechten Tradition", jede Kritik an der sächsischen Polizei abzuwehren, einem dramatischen Missverhältnis zwischen rechten Demonstranten (8.000) und Gegendemonstranten (3.000) in Chemnitz und forderte die Menschen zu mehr bürgerschaftlichem Engagement auf.
Serdar Somuncu: Der Kabarettist sagt einen der bemerkenswertesten Sätze des Abends: "Allem voran geht es um einen respektvollen Umgang. Es muss einen gemeinsamen ethischen Kodex geben und dieser Anfangswert muss Respekt heißen – und dann können wir weiterschauen."
Was war das Rede-Duell des Abends?
Ministerpräsident Kretschmer sprach auf mehrfache Nachfrage der Gastgeberin von einem "kritischen", aber "gelungenen Polizeieinsatz" am vergangenen Montag. Die Polizei habe das Gewaltmonopol des Staates behauptete, es habe keine falsche Lageeinschätzung gegeben. Dabei standen rund 600 Polizisten mehreren Tausend teils gewaltbereiten Demonstranten gegenüber.
Anne Will wunderte sich – und Olaf Sundermeyer, selbst vor Ort, widersprach angesichts von Übergriffen auf Migranten, Journalisten und Gegendemonstranten deutlich, sprach von "Behördenversagen": "Wenn man Dinge tabuisiert, wenn man sie nicht wahrhaben will, dann werden die Dinge stärker", gab er dem CDU-Politiker mit auf den Weg.
Kretschmer hätte hier etwas Selbstkritik gut zu Gesicht gestanden. Stattdessen nannte er die Einlassungen Sundermeyers "unmöglich", weil dieser keine Sachkenntnis der Details habe.
Wie hat sich die Moderatorin geschlagen?
Anne Will fühlte Michael Kretschmer auf den Zahn, als er den Polizeieinsatz vehement verteidigt, und ergriff Partei für ihren Journalisten-Kollegen Sundermeyer, dessen Argumente überzeugender klangen als Kretschmers Mantra "Es war alles super!".
Will erhielt nach ihrer kleinen Belehrung ("Sie müssen es dann ebenso belegen!") großen Applaus vom Publikum. Auch an anderen Stellen fragte sie hartnäckig nach.
Was war das Ergebnis?
Es scheint auch an der Spitze der sächsischen Politik angekommen zu sein, dass das Bundesland ein Problem mit gewaltbereiten Neonazis hat. "Was ich in Chemnitz gesehen habe, hat mit gezeigt: Wir müssen jetzt handeln", sagte Michael Kretschmer.
Das klang ganz anders als der alte Spruch vom früheren Ministerpräsidenten Kurt Biedenkopf, die Sachsen seien "immun" gegen Rechtsextremismus. Andererseits hat Kretschmer seine Polizei für einen Einsatz gelobt, bei dem es nachweislich große Probleme gab. Das klang wieder nach Verdrängung – und dem alten Muster der CDU im Freistaat.
Von einer "üblen Tradition", die Schuld bei anderen zu suchen, sprach Wolfgang Thierse. Diese reiche bis weit in die DDR zurück.
Für ihn ist klar, dass die Ausschreitungen in Chemnitz nicht durch Angela Merkels Flüchtlingspolitik zu erklären sind, wie es Wolfgang Kubicki von der FDP vergangene Woche getan hatte.
Gleichzeitig findet Thierse auch, dass Merkels Satz "Wir schaffen das" zu wenig gefolgt sei. Viele Menschen seien ihren mit ihren Ängsten alleine gelassen worden – ein gefundenes Fressen für Parteien wie die AfD. Sein Fazit: "Wir überlassen den Rechten das Feld, wenn wir uns scheuen, ihre Themen mit unseren Ansichten zu besetzen."
Genau das – darin waren sich alle Gäste weitgehend einig – darf nicht länger geschehen.
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