Sachsens Ministerpräsident Kretschmer sucht den Dialog mit den Chemnitzern - und erntet Beifall, von draußen aber auch Buh-Rufe. In Berlin und Münster gehen währenddessen Menschen gegen Rechts auf die Straße. Und die Hinweise, wer die unrechtmäßige Veröffentlichung des Haftbefehls zu verantworten hat, verdichten sich.
Begleitet von einem massiven Polizeiaufgebot und scharfen Kontrollen haben sich am Donnerstagabend rund 1.000 Menschen bei einer Protestkundgebung der rechtspopulistischen Bewegung Pro Chemnitz versammelt.
Zuvor hatte das sächsische Justizministerium einen Erfolg bei der Suche nach einer undichten Stelle bei den Behörden gemeldet. Den im Internet veröffentlichten Haftbefehl eines mutmaßlichen Täters der Messerattacke von Chemnitz hat offensichtlich ein Dresdner Justizvollzugsbediensteter weitergegeben. Der Mann wurde mit sofortiger Wirkung vom Dienst suspendiert.
Neue Proteste verlaufen friedlich
Die Protestkundgebung in Chemnitz verlief ohne größere Zwischenfälle. Während die Behörden von rund 900 Teilnehmern sprachen, schätzen Augenzeugen die Zahl auf über 1.000. Die Stimmung unter den Demonstranten war aufgeheizt, aber nicht bedrohlich wie bei den Protesten am vergangenen Montag. "Hau ab"-Rufe begleiteten Sachsens Ministerpräsidenten Michael
Beim so genannten Sachsengespräch gab es Beifall, aber auch Pfiffe und Buhrufe von den rund 400 Teilnehmern für den Regierungschef und die Chemnitzer Oberbürgermeisterin Barbara Ludwig (SPD). Während der Einführungsrede von Wirtschaftsminister Martin Dulig (SPD) schallen von draußen "Hau ab! Hau ab!"-Rufe durch die geöffneten Fenster des Businessclubs - gemünzt war dies jedoch auf Kretschmer.
Protestierende bemängeln zu lasches Vorgehen gegen kriminelle Migranten
Die Protestierenden im Gebäude bemängelten ein aus ihrer Sicht zu lasches Vorgehen gegen kriminelle Migranten und kritisierten die Politik der sächsischen Landesregierung, deren Vertreter sich im Stadion von Sachsens drittgrößter Stadt zu einem Dialog mit mehreren hundert Einwohnern getroffen hatten.
Die Polizei verzeichnete mindestens acht Straftaten. Dabei handelte es sich um Verstöße gegen das Versammlungsgesetz und das Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen.
Zudem erkannten die Beamten Teilnehmer wieder, die sich bei den Protesten am Montag strafbar gemacht hatten. Insgesamt war die Polizei am Donnerstagabend mit mehr als 1.200 Kräften aus mehreren Ländern und der Bundespolizei im Einsatz.
Demos in Berlin und Münster gegen Rechts
Während in Chemnitz gegen die Einwanderungspolitik protestiert wurde, schlossen sich in Berlin-Neukölln bei einer Demonstration gegen Gewalt und Fremdenhass gut 5.000 Menschen an - weit mehr als erwartet. Rund 2.000 Menschen demonstrierten am Donnerstagabend in Münster gegen Rechts.
Zu dem Bürgergespräch war neben Ministerpräsident Kretschmer der Großteil seines Kabinetts angereist. Den Anfang bildete eine Schweigeminute für den 35-Jährigen, der am vergangenen Sonntag am Rande des Stadtfestes erstochen worden war. Ein 22 Jahre alter Iraker und ein Syrer (23) sitzen als Tatverdächtige in Untersuchungshaft.
Festgenommener verdächtiger Iraker nicht geduldet
Der festgenommene Iraker war nach Angaben des sächsischen Innenministeriums in Deutschland nicht geduldet. Damit widersprach das Ministerium anderslautenden Meldungen.
Nach den Unterlagen der Landesdirektion Sachsen sei noch ein Asylverfahren beim Bundesamt für Migration (Bamf) anhängig. Der Iraker habe seit Oktober 2015 in Sachsen gelebt. Den ersten Antrag habe das Bamf im März 2017 als unzulässig abgelehnt. Rechtsmittel gegen diese Entscheidung seien aber erfolgreich gewesen, weshalb es ein neues Verfahren gab.
Am Donnerstagabend waren Meldungen veröffentlicht worden, wonach die Abschiebung des Irakers schon im Mai 2016 für zulässig erachtet wurde. Nach Recherchen der "Welt" und der "Nürnberger Nachrichten" ließ das Bamf die Rückführung des Mannes aber verstreichen, der bereits vor seiner Einreise in Deutschland Asyl in Bulgarien beantragt hatte.
Die beiden Zeitungen bezogen sich auf Angaben des Verwaltungsgerichtes Chemnitz. Das Verwaltungsgericht war am Donnerstagabend nicht mehr erreichbar.
Sächsische Polizei mit Unterstützung aus anderen Bundesländern
Nachdem bei den Protesten am Montag deutlich zu wenig Polizisten im Einsatz waren, wurden am Donnerstag die sächsischen Beamten von Kollegen aus anderen Bundesländern, von der Bundespolizei und Bereitschaftspolizei unterstützt.
"Wir werden nicht dulden, dass Chaoten und gewaltbereite und rechte Gewalttäter die Straßen erobern", sagte Sachsens Innenminister Roland Wöller (CDU). Die Polizei achtete bei Kontrollen vor dem Veranstaltungsort darauf, dass sich die Besucher des Dialogs nicht mit der parallel stattfindenden Demonstration vermischten.
Weiter keine Angaben zum Tatmotiv des Messerstechers
Die Staatsanwaltschaft hält sich mit Details zu den Hintergründen der Gewalttat weiter bedeckt. Die Anklagebehörde machte am Donnerstag auf Anfrage keine Angaben zum Tatmotiv und ging auch nicht auf Medienberichte ein, wonach der Messerattacke auf einen 35 Jahre alten Deutschen am Sonntagmorgen entweder ein Streit um Zigaretten oder ein versuchter EC-Karten-Raub vorausgegangen sei.
Der illegal veröffentlichte Haftbefehl hatte für viel Kritik gesorgt. Das teilweise geschwärzte Dokument war unter anderem auf Internetseiten von Pro Chemnitz, einem Kreisverband der AfD sowie des Pegida-Gründers Lutz Bachmann verbreitet worden.
Neben dem getöteten 35-jährigen Deutschen waren bei der Messerattacke zwei 33- und 38-Jährige zum Teil schwer verletzt. Mittlerweile wurde einer der Männer aus dem Krankenhaus entlassen. Der dritte Geschädigte befinde sich noch in stationärer Behandlung, schwebe aber nicht in Lebensgefahr, teilte die Staatsanwaltschaft mit.
Rechte Demonstranten ziehen durch Chemnitz
Nach der Tat zogen überwiegend rechte Demonstranten durch die Stadt und hetzten gegen Ausländer, einige wurden sogar angegriffen. Die rechtsextremen und ausländerfeindlichen Übergriffe stießen bundesweit und international auf Ablehnung. Die sächsische Polizei geriet in die Kritik, weil sie das Ausmaß des Protestes unterschätzt und zu wenig Personal zu Demonstrationen geschickt hatte.
Am Freitag wollte Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD) Chemnitz besuchen. Tags zuvor rief sie bei einem Besuch in Thüringen zum Kampf gegen den Rechtsextremismus auf.
Für diesen Samstag hat die AfD gemeinsam mit der ausländerfeindlichen Pegida-Bewegung in Chemnitz zu einer weiteren Kundgebung aufgerufen. (szu/dpa)
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