Russland und die Türkei leiden unter drängenden wirtschaftlichen Problemen. Nähern sich Recep Tayyip Erdogan und Wladimir Putin politisch einander an, um die drohende ökonomische Krise gemeinsam abzuwenden? Experten meinen: Für beide Länder könnte langfristig Europa die Rettung sein.

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Die Türkei bekam es am Montag schwarz auf weiß von der EU: "Verheerend", so die ARD-Tagesschau, sei der Bericht der EU-Kommission über das Land am Bosporus ausgefallen. Das Dokument attestiert der Türkei, sie habe sich "mit großen Schritten von der EU entfernt."

Ebenfalls in der Klemme steckt derzeit Russland: "Die US-Sanktionen treffen Russland hart", meldet das ZDF.

Wirtschaft der beiden Länder lahmt

Die Ursachen mögen sehr unterschiedlich sein – die Auswirkungen sind ähnlich: In beiden Ländern ist die Wirtschaft angeschlagen.

Gegen Russland hat die EU schon im März 2014 wegen der Ukraine-Krise und der Annexion der Krim Sanktionen verfügt. Es begann mit Reisebeschränkungen und dem Einfrieren von Geldern, seither kamen Handelsverbote, ein Waffenembargo und weitere Maßnahmen dazu. Doch die russische Wirtschaft leidet unter weiteren Problemen: "Der Verfall der Energiepreise in den letzten Jahren hat das Land schwer getroffen", sagt der Russland-Experte Dr. Jan Koehler vom Sonderforschungsbereich "Governance" der Freien Universität Berlin. Die Lage sei noch nicht dramatisch, verschärfe sich aber fortlaufend.

Putin verteilt Geld und kauft Loyalität

Die russische Ökonomie funktioniert anders als die im Westen: Putin verteilt Geld und Privilegien an Menschen und erkauft sich damit deren Loyalität. "Anderswo", so Koehler, "nennt man das Korruption". Ein solches System gerät zwangsläufig ins Wanken, wenn weniger Geld fließt. Es sei zweifelhaft, so Koehler, wie lange Putin beispielsweise die tschetschenische Elite oder die russische Oligarchie an sich binden könne, wenn er deren Privilegien nicht mehr garantieren könne.

Noch spüren den Absturz der russischen Wirtschaft nur bestimmte Berufsgruppen: Lehrer etwa, Polizisten, Universitätsangestellte, aber auch beispielsweise die Fernfahrer. Deren Streiks von Ende 2017, die sich gegen hohe Mautgebühren richteten, sieht Koehler als Alarmzeichen: "Das sind einfache Leute, die mit dem wachsenden Abgabendruck nicht mehr klar kommen", so der Russland-Experte. Seine Folgerung: "Teile der Bevölkerung verlieren nach und nach das Vertrauen zum System."

Wie lange Präsident Putin diesen Vertrauensverlust mit außenpolitischen Aktionen ausbügeln kann, ist zweifelhaft. Immerhin billigt Koehler ihm Erfolge zu: Putin habe es seit der Intervention in Georgien im Jahr 2008 geschafft, Russland mit der glaubwürdigen Androhung von Unordnung und Gewalt wieder zu einem "Vetospieler" zu machen, der in der Lage sei, "rote Linien durchzusetzen". Mit dieser außenpolitischen Strategie wolle Putin "innenpolitisch punkten", meint Koehler. Doch das werde nicht lange durchzuhalten sein, weil dem Land die notwendigen finanziellen Ressourcen fehlten.

Erdogan erreicht seine Wirtschaftsziele nicht

Ganz so schwer hat es Recep Tayyip Erdogan in der Türkei nicht. Zwar steht auch sein Land ökonomisch auf wackeligen Beinen, leidet unter dem Ausbleiben von Touristen, der verloren gegangenen EU-Perspektive. Mit einem Wirtschaftswachstum von sieben Prozent kann der Präsident derzeit von den negativen Faktoren ablenken, jedoch: Staatsverschuldung und Inflation steigen bedrohlich an.

Vom fallenden Kurs der Lira profitiert zwar das exportierende Gewerbe. Doch der Türkei-Experte Kristian Brakel, Büroleiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Istanbul, gibt zu bedenken, dass für viele Banken und Unternehmer die Lage immer schwieriger wird, weil ihre Auslandsschulden in Euro und Dollar abgerechnet werden. Ebenfalls in Dollar sind die Energieimporte zu bezahlen, von denen das Land in hohem Maße abhängig ist. Erdogans Ziel, die Türkei bis 2023 unter den zehn größten Volkswirtschaften der Welt zu platzieren – aktuell liegt das Land auf Platz 17 –, werde wohl nicht aufgehen, prognostiziert Brakel.

Europa ist Haupthandelspartner der Türkei

Bleibt die Frage, ob die Türkei und Russland im Zuge ihrer vorübergehenden Kooperation in Syrien einander näherkommen. Putin hatte der Türkei nach ihrem dortigen Einmarsch faktisch freie Hand gegen die syrischen Kurden gelassen.

Die Zusammenarbeit im Bürgerkriegsland sieht Kristian Brakel allerdings lediglich als "Zweckpartnerschaft". Die Türkei sei "Juniorpartner" in einer Strategie, mit der sie sich weiter vom Westen abwende. Das komme dem russischen Ziel entgegen, "das Land aus der NATO herauszulösen". Wirtschaftlich allerdings könne Russland der Türkei allenfalls bei der Kooperation in Energiefragen nützlich sein. Ansonsten habe der östliche Partner "nicht das Potenzial, die EU als Haupthandelspartner der Türkei zu ersetzen".

Auch Russland fehlen die Alternativen

Ähnlich begrenzt sind die Alternativen für Wladimir Putins Russland: Putin und Erdogan seien sich in Syrien allenfalls in der Kurdenfrage einig. Doch sei es Erdogans ursprüngliches Ziel gewesen, das syrische Regime durch eine sunnitisch orientierte Regierung zu ersetzen, während Putin den derzeitigen Machthaber Baschar al-Assad im Amt halten wolle. "Eine weitergehende Kooperation zwischen der Türkei und Russland würde nicht funktionieren", so Jan Koehler.

Auch andere Partner wird Russland schwerlich finden. China sei für Putin keine wirkliche Alternative, analysiert Koehler: "Dieser Partner wäre zu dominant, wirtschaftlich viel zu mächtig, um Russland eine eigene Rolle zu gestatten." Möglich also, dass am Ende die wirtschaftliche Orientierung den Ausschlag geben wird. So wie der Türkei-Experte Brakel die EU als unverzichtbaren Wirtschaftspartner Ankaras sieht, glaubt auch der Russland-Experte an eine wichtige Rolle Europas: Russland werde "langfristig wohl nicht darum herumkommen, sich wieder stärker nach Westen zu orientieren", prognostiziert Jan Koehler.

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