- Am Tag nach den Ausschreitungen in Brasilia beginnen die Aufräumarbeiten.
- Die neue Regierung von Präsident Lula zeigt bei der Aufarbeitung Härte und Entschlossenheit.
- Erste personelle Konsequenzen wurden noch am Abend gezogen.
40 Verletzte, mindestens 1.200 Festnahmen (Stand 14.10 Uhr heute), drei komplett verwüstete Regierungsgebäude. Das ist die erste Bilanz des Schadens, den gestern einige Tausend Anhänger von Ex-Präsident Jair Bolsonsaro in der Hauptstadt Brasilia angerichtet haben. Doch viel stärker als der materielle Schaden wiegt die Gewissheit: Die brasilianische Demokratie wurde in ihrem Zentrum angegriffen und schwer verwundet.
Das Gebäude des Kongresses, der Oberste Gerichtshof (STF) und der Präsidentenpalast (Palacio do Planalto) liegen vis-à-vis am Platz der drei Mächte, der gewissermaßen das Cockpit des Flugzeugs bildet, das Architekt Oscar Niemeyer Ende der 1950er-Jahre auf das Hochplateau im Landesinneren Brasilien betonierte. Hier liegen Legislative, Exekutive und Judikative Seite an Seite, symbolisieren das Kräfteverhältnis eines Rechtsstaats.
Büro von Bundesrichter Alexandre de Moraes verwüstet
Vor allem im Gebäude des STF wüteten die Randalierer. Das Innenleben des Gebäudes soll komplett verwüstet sein, Kunstgegenstände wurden zerstört. Die Tür zum Büro von Bundesrichter Alexandre de Moraes wurde aus den Angeln gehoben, herausgerissen und als Trophäe präsentiert.
Moraes ist ein besonderes Feindbild der Bolsonaro-Anhänger. Unter anderem war er zuständig für die Organisation und Anerkennung der beiden Wahlgänge im Herbst, die Bolsonaro nach vier Jahren aus dem Amt entfernten. Auch wenn das Teile seiner Anhängerschaft noch zwei Monate nach der Wahl und der Amtsübernahme durch Nachfolger Luiz Inácio Lula da Silva nicht wahrhaben wollen.
Die Bilder, die – nach europäischer Zeit – am Sonntagabend die sozialen Netzwerke fluteten, erinnerten an den Kapitol-Sturm der Anhänger Trumps am 6. Januar 2021. Menschenmassen, gekleidet in den Nationalfarben grün und gelb, strömen die Esplanade hinunter und verschaffen sich unerlaubt Zutritt.
Sie zerstören Mobiliar, Glasscheiben und Büros. Es sind verstörende Bilder und dennoch unterscheiden sie sich in einer Sache eklatant: Während im Kapitol Sicherheitskräfte ihr Möglichstes unternahmen, um die Eindringlinge am Zutritt zu hindern, geschah in Brasilia nichts dergleichen.
Sicherheitschef Anderson Torres entlassen
Die Policia Civil veröffentlichte am Montagmorgen eine Stellungnahme, in der sie explizit darauf verwies, den zuständigen Minister für Innere Sicherheit im Bundesbezirk, Anderson Torres, im Vorfeld über die Möglichkeit einer Kundgebung informiert zu haben.
Offenbar hatte es in sozialen Netzwerken zahlreiche Hinweise auf den bevorstehenden Ansturm gegeben. Torres versuchte noch, sich am Montag mit einer Stellungnahme zu rechtfertigen. Doch bereits am Sonntagabend hatte ihn Gouverneur Ibaneis Rocha entlassen. Torres, der frühere Justizminister Bolsonaros, hatte am Sonntag auf die Ausschreitungen nicht reagiert - er weilt im Urlaub in Florida.
Die Eskalation wäre also vermeidbar gewesen, hätte die Behörde, der Torres vorstand, die Warnungen ernst genommen oder ernst nehmen wollen. Auch für Rocha war der Sonntag der vorerst letzte Arbeitstag. Bundesrichter de Moraes suspendierte den Gouverneur für 90 Tage. Noch am Abend hatte Präsident
Bolsonaro äußert sich spät und gewohnt halbherzig
In Florida, ebenfalls in Orlando, ist zurzeit auch Ex-Präsident Jair Bolsonaro anzutreffen. Er hatte sich am 30. Dezember noch vor der Amtsübergabe aus dem Staub gemacht. Von ihm war, anders als bei Trump damals, keine Aktivität im Vorfeld des Angriffs ausgegangen. Was ihn jedoch nicht zum Unbeteiligten macht. Jair Bolsonaro hatte nicht nur vier Jahre lang die Radikalisierung seiner Anhängerschaft forciert, er hatte auch nach der Wahl wenig Deeskalierendes beizusteuern.
Den Wahlsieg Lulas erkannte er nur indirekt an, die Straßensperren und Kundgebungen vor Kasernen, die es immer wieder gegeben hat, hatte er nur halbherzig kritisiert. So auch gestern, als er erst sehr spät per Twitter reagierte und die "Invasion der öffentlichen Gebäude" mit Vorkommnissen der Vergangenheit verglich, an denen linke Demonstranten beteiligt waren. Ein klares Stopp an seine Anhänger war das nicht.
Demokratie wurde erschüttert, aber fällt nicht
Die Demokratie, die in Brasilien erst seit Mitte der 1980er-Jahre ein Comeback nach mehr als 20 Jahren Militärdiktatur erlebt, durchlebte am Sonntag einen der schwierigsten Tage der durchaus turbulenten jüngeren Vergangenheit. Sie hat sich dabei als durchaus verletzlich erwiesen, in ihrem Bestand gefährdet ist sie aber nicht. Schließlich ist es der Polizei gelungen, den Vorfall, den viele als einen Putschversuch beschreiben, weitestgehend unblutig zu beenden. Die bislang mehr als 1.200 Festnahmen zeigen zudem, dass die Aufarbeitung der Taten und die Bestrafung der Täter zeitnah begonnen hat.
Die Arbeit der neuen Regierung, die erst seit einer Woche im Amt ist, wird durch diese Umstände weiter erschwert. Als gäbe es nicht ohnehin genug zu tun, müssen nun die Trümmer beseitigt und die Gebäude saniert werden. Es war ein Angriff auf die Demokratie: Menschen, die mit dem Ausgang einer demokratischen und, nach allem derzeitigen Wissen, sauberen Wahl, nicht zufrieden waren, haben versucht, das Wahlergebnis in ihrem Sinne zu revidieren.
Oder sie sind dafür missbraucht worden. Aber auch das werden die Ermittlungen in den nächsten Tagen zeigen. Simone Tebet, Politikerin der Mitte-rechts-Partei MDB und neue Planungsministerin, twitterte: "Die kriminelle und radikale Haltung der Putschisten, wenn sie sich den Machthabern entgegenstellen, in den Nationalkongress einmarschieren und die STF und den Planalto zerstören, erfordert eine exemplarische Bestrafung. Hinterhältige politische Führer sowie die Geldgeber dieser Aktion müssen streng zur Rechenschaft gezogen werden."
Front der politischen Unterstützer Bolsonaros bröckelt
Aber die schockierenden Bilder haben auch die Gefolgsleute Bolsonaros entzweit. Parlamentssprecher Arthur Lira, eigentlich ein Verbündeter Bolsonaros, twitterte: "Die Verantwortlichen für diesen Angriff auf die brasilianische Demokratie und ihre Hauptsymbole müssen identifiziert und gemäß dem Gesetz bestraft werden." Auch Tarcisio de Freitas (Gouverneur in Sao Paulo) und Claudio Castro (Gouverneur in Rio de Janeiro) verurteilten die Tat.
Die Front der Unterstützer Bolsonaros dürfte angesichts der gezeigten Radikalität einiger Anhänger weiter bröckeln. Das Ende von Störfeuern und Ausschreitungen mag damit nicht erreicht sein.
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.