Der Rettungsdienst in Deutschland ist überlastet, unübersichtlich organisiert – und in lebensbedrohlichen Notfällen immer wieder zu spät. Aus Sicht von Experten ist die Kleinstaaterei der Länder und Kreise ein zentrales Problem. Aber lassen sich bundesweite Standards durchsetzen?
Björn Steiger wollte am 3. Mai 1969 vom Schwimmbad nach Hause radeln. Doch auf der Straße in der Nähe von Winnenden wurde der Achtjährige von einem Auto erfasst. Es dauerte fast eine Stunde, bis ein Krankenwagen am Unfallort eintraf. Der Junge starb auf dem Weg ins Krankenhaus.
Seine Familie hat danach eine Stiftung gegründet. Ihr Ziel: eine Revolution des deutschen Rettungswesens. Mit vielem war sie erfolgreich. Die Björn-Steiger-Stiftung hat sich unter anderem für die bundesweite Einführung von Notfallnummern, Rettungsleitstellen und Luftrettung eingesetzt. Doch inzwischen schlägt Stiftungspräsident Pierre-Enric Steiger Alarm.
Bis Anfang der 2000er Jahre sei Deutschlands Rettungsdienst weltweit führend gewesen. Inzwischen sei man bei Strukturen und Prozessen auf "Standards von Entwicklungsländern" zurückgefallen, sagt der Bruder des Unfallopfers am Donnerstag in der Bundespressekonferenz. "In Deutschland sterben jeden Tag Menschen systembedingt."
Ein Flickenteppich aus mehr als 240 Leitstellen
Der Rettungsdienst ist in Deutschland überlastet und unübersichtlich organisiert. Seit Jahren steigt die Zahl der Einsätze – auch die sogenannten Bagatelleinsätze, für die ein Rettungswagen nicht notwendig wäre. In wirklich lebensbedrohlichen Fällen kommen die Einsatzkräfte daher immer wieder zu spät.
Vor allem aber gleicht das Rettungswesen einem Flickenteppich: Die bundesweit mehr als 240 Leitstellen, die die Einsätze steuern, haben unterschiedliche Träger, sind noch nicht überall miteinander vernetzt. Ihre Technik ist teilweise veraltet. Die Folgen sind steigende Kosten, aber auch ein großer Personalmangel, weil viele hauptberufliche Rettungskräfte den Beruf aufgeben. Und eben auch: Menschen in Lebensnot, die nicht ausreichend oder zu spät versorgt werden.
Bei Ausbildungskapazitäten und bei der Ausstattung der Fahrzeuge gehöre Deutschland noch immer zur Weltspitze, sagt Pierre-Enric Steiger. Das Problem sei aber die kleinstaaterische Organisation. "Im internationalen Vergleich sind die deutschen Leistellen auf dem Stand von vor 20 Jahren zurückgeblieben", sagt Christoph Chwojka, Geschäftsführer der Steiger-Stiftung.
Aus seiner Sicht müsste sich unter anderem folgendes ändern: Wer in einer Leitstelle einen Notruf entgegennimmt, muss entscheiden, ob es sich um einen Fall für den Rettungsdienst handelt – oder ob dem Patienten auch anders geholfen werden kann. Auch telefonische Anleitungen zur Reanimation seien nötig. Zudem komme Deutschland auch mit deutlich weniger Leitstellen aus, um Abstimmungsprobleme zu vermeiden. Andere Staaten machen das vor.
Länder pochen auf Gesetzgebung
Die Ampelkoalition hat das Problem erkannt und will bundeseinheitliche Regeln für den Rettungsdienst schaffen. "Ich habe in meinem Berufsleben selbst erlebt: Patientinnen und Patienten kommen zu Schaden, weil das System nicht richtig funktioniert", sagt der Notfallmediziner und Grünen-Bundestagsabgeordnete Janosch Dahmen.
Der Haken: Für die Organisation des Rettungsdienstes sind die Bundesländer zuständig. Einige Landesregierungen stemmen sich gegen Vorgaben aus Berlin. "Von vornherein ist es ausgeschlossen, dass der Bund eigenständig Festlegungen trifft, die in die Zuständigkeit der Länder fallen", sagte Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) im vergangenen April unserer Redaktion. Der Rettungsdienst bleibe Ländersache.
"Die Blockierer sitzen auf Landes- und kommunaler Ebene", schimpft am Donnerstag Stiftungspräsident Steiger. "Das geht runter bis zu den Landkreisen. Denn jeder pocht darauf, dass er eine eigene Leistelle haben will."
Udo di Fabio: "Staat hat eine Schutzpflicht"
Neben Steiger sitzt der frühere Verfassungsrichter Udo di Fabio, der zum Thema ein Gutachten geschrieben hat. Er bestärkt die Bundesregierung in ihren Plänen, bundesweite Qualitätsvorgaben für den Rettungsdienst zu machen.
"Der Staat hat eine Schutzpflicht", betont der Jurist – und der Bund lege die Regeln für die Finanzierung des Rettungsdienstes fest. Dadurch habe er sehr wohl die Möglichkeit, auch Standards und Qualitätsvorgaben für Länder und Kommunen aufzustellen. Auch ohne eine Grundgesetzänderung.
Grünen-Politiker Dahmen zeigt sich am Donnerstag zuversichtlich, hier voranzukommen. Am Vortag hat das Bundeskabinett bereits eine Reform der Notaufnahmen in Krankenhäusern auf den Weg gebracht. Möglich ist, dass der Bundestag in diesem Gesetz auch neue Regeln für den Rettungsdienst verankert.
Verwendete Quellen
- PK in der Bundespressekonferenz
- Björn Steiger Stiftung: Verfassungsrechtliche Vorgaben für die Neuordnung der deutschen Notfallrettung
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