Nachdem die Bundesregierung die Reisewarnung für 160 Nicht-EU-Länder – darunter die Türkei – verlängert hat, herrscht Krisenstimmung zwischen Ankara und Berlin. Wie ist die Lage in der Türkei und warum fallen die Reaktionen so heftig aus?
Die Bundesregierung hat die Reisewarnung, die im Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie ausgesprochen wurde, für 31 europäische Länder aufgehoben. Für mehr als 160 Länder außerhalb Europas wurde sie bis zum 31. August verlängert. Eines dieser Länder ist die Türkei.
Die Regierung in Ankara möchte die Verlängerung der Reisewarnung jedoch nicht ohne weiteres hinnehmen. Der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoglu beschwerte sich über die Entscheidung des Auswärtigen Amtes und verlangte, dass Deutschland die Reisewarnung "zum frühestmöglichen Zeitpunkt" aufhebt. Laut "Spiegel" haben sogar der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan und Bundeskanzlerin Angela Merkel dazu telefoniert.
Çavuşoğlu betont, es gäbe keine "wissenschaftliche Basis" für die Entscheidung. Seinem deutschen Amtskollegen
Wie begründet die Bundesregierung die Reisewarnung für die Türkei?
Das Auswärtige Amt geht bei der Aufhebung seiner Warnungen nach eigenen Angaben schrittweise vor. Die Reisewarnung wurde zunächst für europäische Länder aufgehoben, weil inzwischen die Einschätzung vorherrscht, dass das Infektionsgeschehen auch bei zunehmender Reisetätigkeit in der Region beherrschbar bleibt.
In der Türkei sind die Infektionszahlen im Juni im Vergleich zum Vormonat gestiegen. Zuletzt wurden 1600 Neuinfektionen an einem Tag gemeldet. In 42 Provinzen wurde deshalb die Maskenpflicht auf alle öffentlichen Bereiche ausgeweitet. Zuvor galt sie nur in besonders belebten Räumen wie in Supermärkten.
Das Auswärtige Amt verfolge das Ziel, die Reisewarnung nach und nach für weitere Länder aufzuheben. Das könne für einzelne Länder auch früher als am 31. August zutreffen. Dafür würden laufend die Kriterien für eine Lockerung geprüft. Das gelte für die Türkei gleichermaßen wie für die übrigen Länder.
Ausschlaggebend seien neben den aktuellen Infektionszahlen in einem Land auch Faktoren wie die Kapazitäten des Gesundheitssystems und bestehende Flugverbindungen nach Deutschland. Außerdem würden Gespräche mit den Regierungen geführt, um Vereinbarungen dazu zu treffen, was mit deutschen Touristen geschieht, die vor Ort erkranken.
Türkei auf Tourismus angewiesen
Dass die türkische Regierung auf die Entscheidung des Auswärtigen Amtes empfindlich reagiert, ist laut Kristian Brakel dennoch nachvollziehbar. Nach der Einschätzung des Leiters des Türkei-Büros der Heinrich-Böll-Stiftung fürchtet die türkische Regierung um den Tourismus: "Der Tourismus ist weiterhin ein sehr zentraler Pfeiler der türkischen Wirtschaft vor allem was die Einnahme von Devisen angeht."
Deutsche bilden nach Russen die zweitgrößte Touristengruppe in der Türkei. "Da Russland weiterhin stark mit dem Virus zu kämpfen hat, ist jetzt auch das vermutliche Ausbleiben größerer Besucherströme aus Deutschland eine Hiobsbotschaft für die vielen Menschen, die im türkischen Tourismus beschäftigt sind", gibt Brakel zu bedenken.
Laut dem Nahost-Experten Udo Steinbach kommt ein weiterer Faktor hinzu: "In der Türkei sehen wir oft einen engen Zusammenhang zwischen der Außenpolitik und der Innenpolitik", erläutert der Wissenschaftler, der 31 Jahre lang das Deutsche Orient-Institut geleitet hat. Die Regierungspartei AKP befinde sich aktuell in einer besonders kritischen Lage.
Türkische Regierung kämpft mit innenpolitischen Problemen
Die ohnehin angespannte wirtschaftliche Situation im Land habe sich durch die Coronakrise zusätzlich verschlechtert. Die Regierung sei insgesamt, was die Zustimmung der Bevölkerung angeht, stark angegriffen.
"Wir haben zwei enge Gefolgsleute von Erdogan, die eigene Parteien gegründet haben. Wir sehen, dass die CHP in Istanbul eine ernste Konkurrenz darstellt. Die jüngsten Umfragen zeigen, dass die AKP immer mehr ihre Legitimation verliert", so Steinbach. Darum versuche die Regierung, in der Außenpolitik Stärke zu zeigen.
Die Gefahr, dass sich die diplomatischen Verwerfungen zwischen Deutschland und der Türkei weiter verschärfen, ist laut Steinbach jedoch nicht sehr groß. "Man will die deutsche Seite nicht völlig verärgern, man braucht sie ja."
Verwendete Quellen:
- Gespräch mit Udo Steinbach, Nahost-Experte, von 1976 bis 2007 Leiter des Deutschen Orient-Instituts
- Einordnung von Kristian Brakel, Leiter des Türkei-Büros der Heinrich-Böll-Stiftung in Istanbul auf Anfrage unserer Redaktion
- Stellungnahme des Auswärtigen Amtes auf Anfrage unserer Redaktion
- Auswärtiges Amt: Reise- und Sicherheitshinweise
- Tagesschau.de: Cavusoglu wirbt um deutsche Urlauber
- Spiegel Online: Türkei fordert Aufhebung der Reisewarnung
- Deutschlandfunk: Mehr Corona-Neuinfektionen in der Türkei
- Hürriyet: Almanya ile turizm diplomasisi
- Dünya: Almanya, seyahat uyarısını 31 Ağustos’a kadar uzattı
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.