Wer ist eigentlich Wladimir Putin? Journalist Michail Sygar erklärt in seinem Buch das Phänomen Putin. Er beschreibt seine Wandlung vom einst populärsten Politiker der Welt zum "schrecklichen Zaren". Und er liefert dafür eine Erklärung.
Im Jahr 2003 war er laut Washingtoner Pew Research Center der populärste Politiker der Welt. Vom Magazin "Time" wurde er 2007 zum Mann des Jahres gekürt. Die Rede ist von
Ein "zynischer, kaltblütiger Machtpolitiker" kommentiert etwa die "Zeit". Putin habe das Image eines "schrecklichen Zaren", schreibt der Journalist Michail Sygar.
Wie ist es dazu gekommen? Warum hat sich das Bild vom russischen Präsidenten so geändert? Sygar will darauf eine Antwort gefunden haben. In seinem neuen Buch "Endspiel. Die Metarmorphosen des Wladimir Putin" präsentiert er sein Ergebnis.
"Wir alle haben uns unseren Putin erschaffen"
Sygar behauptet, dass Putin entgegen vielen Meinungen keinen strikten Plan, keine klare Strategie verfolgt. Vielmehr sei es so, dass der russische Präsident sich in einer Metamorphose befinde, sich ständig wandle. Putin habe in den 15 Jahren Politik stets nur reagiert. Er sei getrieben von innenpolitischen Ereignissen, gedrängt von außenpolitischen Entwicklungen.
Putin stelle sich auf neue Situationen ein, passe sich den Gegebenheiten bestens an. Gegen die ständigen Anpassungen soll er sich anfangs sogar gewehrt haben. Putin habe allerdings eingelenkt, "weil er begriffen hat, dass es so einfacher für ihn ist".
Sygar will zeigen, "dass es Putin eigentlich gar nicht gibt." Sein gegenwärtiges Image, "das eines schrecklichen Zaren, ist für ihn größtenteils ohne sein Mitwirken erdacht worden – von seinem Gefolge, von den Partnern im Westen und den Medien", schreibt Sygar. Putin, so der Autor, sei keine Einzelperson, sondern vielmehr ein "kollektiver Verstand von enormen Ausmaßen".
"Wir alle haben uns unseren Putin erschaffen. Und wahrscheinlich noch lange nicht die letzte Version", schlussfolgert Sygar.
Um seine These zu stützen, rekonstruiert er auf 400 Seiten Putins Verwandlung vom "König Löwenherz", einem "König in Glanz und Herrlichkeit" zu "Putin der Schreckliche"; vom Reformer zum Mann, den die Welt fürchtet. "Ich berichte davon, wie ein Mann durch puren Zufall König wurde", schreibt der Journalist.
Putins Weg wie ein Polit-Thriller
Sygars Buch liest sich wie ein Polit-Thriller. Er zeichnet darin Putins Weg zur Herrschaft und Machterhaltung als Verkettung glücklicher Zufälle. Es geht um Intrigen, Strippenzieher und ideologisch verbundene Freundschaften. Sygars Werk basiert auf Gesprächen mit hochrangigen Persönlichkeiten, Personen aus Putins engstem Kreis und auf historischen Ereignissen.
Dabei beleuchtet der Journalist die russische Machtelite, schaut in die hinterste Ecke des Kreml und beschreibt, welche Rolle Korruption, Kumpanei und die Medien spielten. Mit Schlüsselfiguren wie Boris Jelzin, Boris Beresowski über Alexander Woloschin, Michail Chodorkowski oder Alexej Nawalny führt Sygar den Leser in eine Welt aus geschichtsträchtigen Ereignissen und politische Scharmützel.
Es beginnt mit Putins überraschender Wahl zum Präsidenten und seiner Orientierung gen Westen. Der russische Präsident will in den Klub der Staatenlenker wie Tony Blair, George W. Bush und Gerhard Schröder aufgenommen werden. Mit dem englischen Premier verbindet ihn bald sogar ein freundschaftliches Verhältnis. Als erster russischer Präsident wird er auf Staatsbesuch nach London eingeladen.
Doch Putin fühlt sich bald verraten – von England, den USA, der Nato-Osterweiterung. Putins Verhältnis zum Westen ändert sich insbesondere mit der orangen Revolution in der Ukraine. "Im Jahre 2015 ist das Gebräu aus Antiamerikanismus und bewusst primitivem Patriotismus politischer Mainstream geworden", schreibt Sygar.
Vereint im Anti-Amerikanismus
Sygar beschreibt, wie Putin und seine Vertrauten potenzielle Rivalen wie Michail Chodorkowski aus dem Weg räumten und innenpolitisch die Zügel anzogen. Danach folgt eine Zeit, in der Putin sich wie ein selbstherrlicher Oligarch gibt, in der er das "gute Leben" der Superreichen schätzen lernt.
Als Dmitri Medwedew 2008 Präsident wird, setzt sich Putin mit PR-Stunts in Szene – halbnackt auf dem Pferd, mit Weißkranichen fliegend. So bleibt er omnipräsent.
Wie gut Putin auf Ereignisse zu reagieren weiß, zeigt sich zu Beginn seiner dritten Amtszeit. Als sich das Großstadtpublikum von ihm abwendet, besinnt er sich aufs einfache Volk. Mit ihm weiß er sich im Zorn auf Amerika einig. Die Maidan-Proteste in Kiew füttern seine Paranoia, wie Sygar schreibt: In Wirklichkeit haben es die USA auf ihn abgesehen.
Sygars Werk beansprucht historische Wahrheit und zwingt den Leser, öfter die Perspektive zu wechseln – mal die Sichtweise Putins und seiner Mitstreiter, mal seiner Gegner. Der Journalist schönt nichts, nimmt kein Blatt vor den Mund, aber er liefert in den Kapiteln auch keine vorgefertigten Meinungen.
Ob Sygar damit auch eine gewisse Nachsicht mit so manchem Akteur übt, bleibt unklar. Aber er zwingt seine Leser, eigene Schlussfolgerungen zu ziehen – auch wenn er im Vor- und Nachwort seine eigenen Thesen herausarbeitet und schärft. Am Ende wird klar: Putin hat zwar viele Wandlungen erlebt, aber eins war immer gleich: Putin ist ein Mann, der stets nach Anerkennung sucht.
Fazit: Wer Putin und Putins Russland verstehen will, sollte sich dieses Buch nicht entgehen lassen - auch wenn der Titel "Endspiel" etwas irreführend ist. Denn im Buch selbst finden sich keine Hinweise auf ein Ende einer Ära Putin. Das Buch aber ist spannend geschrieben und erläutert Hintergründe. Ein Werk, nicht nur über den russischen Präsidenten und seine Wandlungsfähigkeit, sondern eines das zeigt, wie Russland unter Putin tickt.
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