Vor einem Jahr löste die Zerstörung des Kachowka-Staudamms in der Südukraine eine Flut und beispiellose Umweltkatastrophe aus. Wie ist die Lage an der Dnipro-Mündung am Schwarzen Meer heute?
Die Bilder von überfluteten Häusern und Ortschaften, vom massenhaften Fischsterben und dem zerstörten Kachowka-Staudamm am Dnipro haben sich bei den Ukrainern neben anderen Gräueln des russischen Kriegs tief ins Gedächtnis eingebrannt.
Ein Jahr nach der Zerstörung des Staudamms, der ohne die im dritten Jahr andauernde russische Invasion noch stehen würde, sind die Folgen der Katastrophe vom 6. Juni 2023 zwar weithin sichtbar. Aber nach Einschätzung von Ökologen hat sich die Natur auch behauptet. Die anfangs befürchtete großflächige Wüstenbildung ist ausgeblieben.
Experten bei der Umweltschutzorganisation Ukrainian Nature Conservation Group (UNCG) schwärmen, dass sich inzwischen neue Habitate herausgebildet hätten. Die Organisation kann dem geplanten Wiederaufbau des Staudamms nicht viel abgewinnen, weil sie befürchtet, die Reservate könnten austrocknen. Weil der Stausee nicht mehr existiere und das Wasser vom Dnipro Richtung Schwarzes Meer fließe, werde der Nationalpark Welykyj Luh zum ersten Mal seit 90 Jahren durch das Frühjahrshochwasser als Feuchtgebiet wieder kräftig bewässert, sagt der Biologe Iwan Mojsijenko.
Die Ökosysteme erholten sich, es bildeten sich anders als befürchtet keine Wüsten, sondern wieder weitflächige Sumpfgebiete, Auenlandschaften wie vor dem Volllaufen des Reservoirs am Staudamm, den die Kommunisten 1956 zu Zeiten der Sowjetunion fertigstellten. Auch am Grund des früheren Stausees habe sich ein neues Ökosystem gebildet. "Das ist ein vitales Ereignis der Biodiversität", sagt Mojsijenko. Das Wasser bringe organisches Material, das die Böden anreichere – und spüle Pflanzensamen an. Das helfe der Vegetation, sich zu erholen. Dadurch entstehe ein wichtiger Lebensraum für Wasservögel und andere Tiere.
Flut verschlang Siedlung und tötete viele Menschen
Vor einem Jahr in der Nacht zum 6. Juni brach der Staudamm des Kachowka-Wasserkraftwerks am Unterlauf des Fluss Dnipro mutmaßlich durch eine Detonation. Präsident Wolodymyr Selenskyj warf Russland vor, den Staudamm vermint und gesprengt zu haben. Dagegen behauptete Kremlchef Wladimir Putin, der mit seinem Krieg den größten Teil des Gebiets besetzt hält und die Region Cherson annektiert hat, die Ukraine selbst habe durch Beschuss mit Raketenwerfern die Staumauer zerstört. Experten hatten auch darauf hingewiesen, dass der Staudamm schon vor dem Krieg marode gewesen sei. Der Druck des angestauten Wassers habe demnach ebenfalls eine Rolle spielen können.
Gut 18 Kubikkilometer Wasser flossen innerhalb von etwa vier Tagen ab und überschwemmten auf ihrem Weg ins Schwarze Meer mehr als 80 Siedlungen. Mehr als 80 000 Hektar – etwa die Fläche Berlins – waren betroffen. Mehr als 60 Menschen starben, Hunderte wurden verletzt; Hunderttausende verloren ihr Hab und Gut. Zehntausende Tiere verendeten. Rund eine Million Menschen verloren zudem den Zugang zu sauberem Wasser. Im Oktober bezifferte die Regierung die Schäden auf umgerechnet rund 12,9 Milliarden Euro.
Flut zerstört Bewässerung für Kornkammern der Ukraine
Die Flut überschwemmte Ackerflächen; Bewässerungssysteme für die Landwirtschaft wurden in der dortigen Kornkammer der Ukraine zerstört. Im Gebiet Cherson spülte das Wasser Unmengen an Schlamm aus mit Schwermetallen belasteten Industrieabfällen über das Land. Die Umweltkatastrophe traf Böden, die zu den fruchtbarsten in Europa gehören. Verwüstet wurde nicht zuletzt die einzigartige Pflanzenwelt im Delta des Dnipro-Flusses. Öl, Schmiermittel und andere giftige chemische Substanzen verschmutzten das Wasser.
Präsident Selenskyj sprach damals von der größten menschengemachten Umweltkatastrophe der vergangenen Jahrzehnte in Europa. Er verglich sie mit den Folgen des Einsatzes einer "Massenvernichtungswaffe". Doch Wissenschaftler bemühten sich stets um nüchterne Einschätzungen.
Ökologe: "Ein endloses grünes Meer aus Weiden"
Gut ein Jahr nach dem Dammbruch ist vom Stausee, der etwa 60 Jahre lang zu den größten Reservoirs des Landes gehört hatte, nichts mehr zu sehen. "Ein endloses grünes Meer aus Weiden, das ist unglaublich", beschreibt auch der Ökologe Wadym Manjuk am Stauseeufer die Lage in einer Reportage des ukrainischen öffentlich-rechtlichen Fernsehens. Im Durchschnitt hat sich auf dem ehemaligen Seegrund ein Weidenwald von 2,5 bis 3,5 Metern Höhe entwickelt. "Das war absolut erwartbar, denn das ist ein Pionierbaum, der immer in Flusstälern auf sandigen Böden zu finden ist", erklärt Manjuk.
Die Weide habe nach dem Weggang des Wassers ideale Bedingungen vorgefunden. Am Boden finden sich aber zudem auch Schilfrohr und aus den Bodenrissen sprießt auch Wasser-Ampfer. Durch die zunehmende Trockenheit werden diese aber wohl mit der Zeit verschwinden, und es bleibe ein Wald aus Weiden.
Das Fachmagazin "Science" wies in einer großen Analyse darauf hin, dass immer noch viel Biomaterial wie Muscheln am Boden verwese. Zudem gebe es die potenzielle Gefahr, dass sich durch die vielen kleineren Gewässer nun Mücken, die Krankheiten übertragen, und andere blutsaugende Insekten ausbreiten könnten. Erwartet wird zudem, dass sich die Region aufheizt, weil der kühlende Effekt des Stausees fehle.
Weiter viele Gefahren für Wissenschaftler im Kriegsgebiet
Schon im vergangenen Jahr beklagten die UNCG-Experten verheerende Schäden für die Natur mit ihren einzigartigen Biotopen: seltene Ameisenpopulationen, Reptilien und Amphibien, Nistplätze für Vögel, aber auch Säugetiere seien vernichtet worden. Der Lebensraum für 70 Prozent der Birkenmaus (Sicista loriger) war demnach überflutet und damit verloren, befürchtet wurde ein Aussterben der Art. Auch die Hälfte der Population der Sandblindmaus (Spalax arenarius) sei zerstört, schrieben die Experten der Organisation in einem Bericht.
Einen kompletten Überblick über die Umweltsituation und Schäden haben die Wissenschaftler bislang nicht. Erschwert wird die Lage dadurch, dass Russland weite Teile des Gebiets Cherson durch seinen Krieg gegen die Ukraine besetzt hält. Russische und ukrainische Truppen schießen in der Region aufeinander. Die russische Seite hatte die Folgen der Katastrophe auch stets heruntergespielt, Thema ist das in Moskau kaum noch.
Noch immer ist es zu gefährlich für die Forscher, die Wasserqualität zu messen und die Schäden aufzunehmen. Durch die Flut vor einem Jahr wurden auch gefährliche Sprengsätze aus den verminten Böden gespült und verteilt. Erst wenn der Krieg vorbei ist, heißt es auch bei der Organisation UNCG, könnten die kompletten Auswirkungen der Kämpfe auf die Umwelt untersucht werden. Klar ist aber: Die Umweltschäden des Krieges reichen weit über den Fall des zerstörten Staudamms hinaus. © dpa
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