Kurz nach der russischen Invasion in die Ukraine bildete die belarussische Opposition eine Übergangsregierung im Exil. Als Vertreter von Oppositionsführerin Swjatlana Zichanouskaja ist Valery Kavaleuski für internationale Beziehungen verantwortlich. Im Interview mit unserer Redaktion sagt er: Ohne Belarus am Verhandlungstisch, wird es keinen nachhaltigen Frieden geben.
Herr Kavaleuski, am 24. Februar 2022 marschierte Russland in die Ukraine ein, auch über Belarus. Wie erinnern Sie sich persönlich an diesen Tag?
Valery Kavaleuski: Mein erstes Gefühl war Abscheu. An diesem Tag waren Swjatlana Zichanouskaja und ihre Delegation, zu der auch ich gehörte, für einige Besuche in Paris. Wir wachten mit der Nachricht auf, dass der Krieg ausgebrochen war. Das hatte natürlich Auswirkungen auf unser Programm.
Inwiefern?
Wir mussten uns schnell zusammensetzen und eine Pressekonferenz organisieren. Eigentlich wollten wir über die Situation in Belarus sprechen, aber der Krieg in der Ukraine war nun Hauptthema. Wir wollten deutlich machen, dass wir den Krieg verurteilen, dass wir Lukaschenkos Entscheidung, Belarus in diesen Krieg zu verwickeln, verurteilen. Deshalb haben wir die Entscheidung getroffen, das Vereinigte Übergangskabinett als Antwort auf die veränderten Herausforderungen einzurichten. Nicht nur, weil Lukaschenko gegen das Völkerrecht verstoßen hat, sondern auch, weil er unsere Existenz, unser eigenes Land bedroht.
Belarus als Schlüsselfigur im Krieg
Indem er politische und logistische Unterstützung im Krieg gegen die Ukraine leistet?
Richtig. Das Regime hat Russland erlaubt, belarussisches Territorium für den Abschuss seiner Raketen zu nutzen, sogar, um von dort aus mit Soldaten in die Ukraine einzudringen. Das war und ist auch eine Bedrohung für Belarus und seine Souveränität.
Aber bis jetzt gibt es keine Kampfhandlungen auf dem Territorium von Belarus.
Ja, aber wir sind uns darüber im Klaren, dass dieser Krieg auf den internationalen Raum übergreifen und zu einem überregionalen Konflikt eskalieren kann. Lukaschenko hat seit Beginn des Krieges den materiellen Beitrag zu den Kriegsanstrengungen Russlands erhöht und ließ es zu, dass russische Truppen auf unserem Territorium stationiert wurden. Das ging bis hin zur Stationierung von Atomwaffen, was Belarus zu einem potenziellen Ziel für einen Schlag der internationalen Gemeinschaft macht – zumindest dann, wenn versucht wird, von unserem Territorium aus Atomwaffen einzusetzen.
Sie sagen, dass Belarus der Schlüssel vieler Probleme ist. Gleichzeitig könne es aber auch der Schlüssel zu Lösungen sein. Wie meinen Sie das?
Lukaschenko hat den Krieg ermöglicht. Und im Moment leistet er in vielerlei Hinsicht einen Beitrag zu den Kriegsanstrengungen Russlands. Das betrifft nicht nur das Militär, sondern auch den militärisch-industriellen Komplex, der rund um die Uhr arbeitet, um die Russen mit Waffen und Munition zu versorgen. Lukaschenko hilft Putin, westliche Sanktionen zu umgehen. Er ist ein integraler Bestandteil dieses Krieges – ohne selbst Truppen in die Ukraine zu schicken. Aber das könnte jeden Moment passieren. Wenn wir uns nun vorstellen, Belarus hielte sich aus diesem Krieg heraus, …
Welchen wirtschaftlichen Einfluss Belarus auf den Krieg hat
… welche Auswirkungen hätte das?
Zunächst einmal wäre das eine große Erleichterung für die Ukraine, weil sie dann keine Bedrohung mehr aus dem Norden hätte. Sie hat Zehntausende Soldaten an der Nordgrenze stationiert, um eine erneute Invasion aus Belarus zu verhindern. Diese könnten verlegt werden, um die Russen im Osten und Südosten zu bekämpfen. Außerdem würde dadurch die Beteiligung des militärisch-industriellen Komplexes von Belarus an dem Krieg wegfallen. Die russischen Sanktionen könnten durch den Einsatz von Belarus nicht mehr umgangen werden.
Womit wir bei der Wirtschaft angelangt wären.
Auch hier hätte dies Auswirkungen auf die Ukraine. Belarus und die Ukraine wären in der Lage, infrastrukturelle Verbindungen in Bezug auf Energie und Transport wiederherzustellen. Dies würde die Transportwege für ukrainische Waren, einschließlich Getreide, zu den baltischen Seehäfen öffnen. Auf diese Weise würde die ukrainische Wirtschaft erheblich entlastet.
Welche Auswirkungen hätte ein Fehlen Lukaschenkos auf Putin?
Es wäre der schwerste und verheerendste Schlag für Putin. Er würde den einzig wahren Verbündeten in diesem Krieg verlieren. Das Ausmaß an Engagement seitens Belarus‘ ist unübertroffen. Kein anderes Land hat so viel Unterstützung geleistet, wie unseres – obwohl der Krieg vom belarussischen Volk abgelehnt wird. Zusätzlich dazu wäre dies der Weg, unsere Unabhängigkeit zu bewahren.
Und wie?
Es gibt zwei grundlegende Szenarien in diesem Krieg: Entweder Russland gewinnt oder die Ukraine. Beide Szenarien sind für Belarus gefährlich. Gewinnt Russland, gibt es aus Putins Sicht keinen Grund für die Existenz eines unabhängigen Belarus mehr. Die Russen würden jeden Rest von Souveränität in Belarus beseitigen und ihr eigenes Regime errichten. Gewinnt die Ukraine, würden die Russen ihren Verlust kompensieren wollen, indem sie Belarus erobern. Das ist eine niedrig hängende Frucht.
Weil Russland bereits einen solchen Einfluss auf das belarussische Handeln hat?
Die russische Föderation ist sehr, sehr tief in unsere Staatsführung eingedrungen. Lukaschenko ist vollständig von Russland abhängig. Unser Land ist zum Greifen nah für Moskau. Und Putin wird nicht zögern, um sich politisch zu stärken. Die einzige Möglichkeit, unsere Unabhängigkeit zu bewahren, besteht also darin, den Krieg zu verlassen, bevor er endet. Und das ist nur möglich, wenn wir Belarus demokratisieren.
"Die belarussische Stimme ist für eine nachhaltige Lösung des Konflikts unerlässlich."
Valery Kavaleuski
Ihnen zufolge ist Belarus also Teil der Lösung. Dennoch wurden Sie nicht zum Friedensgipfel in der Schweiz eingeladen, der im Juni stattfinden wird.
Wir sind noch nicht eingeladen worden. Aber wir arbeiten mit der Schweizer Regierung und auch mit unseren Partnern in der Europäischen Union daran, deutlich zu machen: Belarus muss vertreten sein. Die belarussische Stimme ist für eine nachhaltige Lösung des Konflikts unerlässlich.
Was meinen Sie mit „nachhaltig“?
Selbst wenn die Ukraine gewänne, Belarus aber unter der Kontrolle Russlands bliebe, könnte Putin seine Truppen weiterhin auf unserem Territorium stationieren. Das würde bedeuten, dass die Ukraine immer mit einer Bedrohung aus dem Norden konfrontiert sein würde. Wir haben eine 1084 Kilometer lange Grenze zur Ukraine, die jederzeit von den russischen Truppen oder dem Lukaschenko-Regime angegriffen werden kann. Belarus muss also eine Stimme am Verhandlungstisch haben. Wir müssen dafür sorgen, dass unsere nationalen Interessen bei solchen Gesprächen vertreten werden. Und das geht nur durch demokratische Kräfte.
Würden Sie es als Fehler bezeichnen, dass westliche Akteure Ihr Kabinett bei der Frage nach Lösungen anscheinend "vergessen"?
Ich sehe es als einen der Steine, die nicht umgedreht werden, um hier einmal die westlichen Akteure zu zitieren. Sie sagen, dass bei der Suche nach einer Lösung kein Stein auf dem anderen bleiben wird. Und dies dürfte eine übersehene Gelegenheit sein, die Situation in der Region zu beeinflussen. Belarus ist das schwächste Glied in der russischen Kriegsanstrengung. Nicht nur, weil sein Militär schwach ist. Das Entscheidende ist, dass das Volk gegen diesen Krieg ist.
Umschwung zur Demokratie
Hat der Krieg Einfluss auf die demokratische Bewegung in Belarus?
Natürlich. Er schafft einen sehr fruchtbaren Boden für politische Veränderungen im Land. Die demokratische Bewegung in Belarus wächst. Sie ist dynamisch, bewegt sich vorwärts. Im Vergleich zur russischen Opposition, die dezentral und unter den Russen überhaupt nicht populär ist, ist unsere demokratische Bewegung viel stärker.
Vor dem Hintergrund der Proteste von 2020 und 2021, die mit Tausenden politischen Gefangenen, Hunderten Folterungen und Toten endeten: Glauben Sie, die belarussische Gesellschaft ist mutig und motiviert genug, um weiterzukämpfen?
Sie ist mutig und die Menschen kämpfen. Natürlich ist dieser Protest nicht mehr so sichtbar, wie er es 2020/2021 war. Wir mussten die Lehren daraus auf schmerzhafte Weise ziehen. Lukaschenkos Regime ist jetzt absolut totalitär. Er versucht, jede Bewegung, jeden Gedanken, jedes Wort zu kontrollieren. Deshalb ist es derzeit gefährlich, seine Ansichten zu äußern. Die Menschen haben sich zurückgezogen, aber sie haben die Idee des demokratischen Wandels nicht aufgegeben.
Wie wollen Sie Ihre Vorstellungen umsetzen, wenn Sie als Kabinett nicht einmal in das Land einreisen dürfen?
Irgendwann müssen wir einreisen. Wir müssen das Land auf Wahlen vorbereiten. Natürlich bringen Wahlen Risiken mit sich, die zu einer verstärkten Einflussnahme durch Russland führen könnten. Aber gleichzeitig sind wir im Moment auf einem sehr sicheren Weg, die Unabhängigkeit unseres Landes zu verlieren. Wenn wir jetzt nicht handeln, haben wir Belarus bald an Russland verloren. Und das wiederum würde eine Menge neuer Bedrohungen und Herausforderungen für unsere europäischen Nachbarn mit sich bringen.
De facto ist Lukaschenko aber an der Macht, was ihm das Kommando über das Militär, die Finanzen und die Kontrolle über die Behörden gibt. Dieser Umstand kann nicht einfach umgangen werden.
Unsere Strategie besteht darin, Lukaschenkos Regime so weit zu schwächen, dass er sich dem Willen der Menschen, das Regime zu ändern, nicht widersetzen kann. Außerdem müssen wir auf Distanz zu Russland gehen, um eine weitere Einmischung in politische und militärische Angelegenheiten zu verhindern. Natürlich ist das kein einfaches Unterfangen. Aber das Wichtigste ist, dass der politische Wille vorhanden ist.
Und die Fähigkeit, den Behörden die Stirn zu bieten...
Auch das belarussische Militär, die Eliten und die Behörden sind sehr besorgt über die Entwicklung, dass die Russen kommen werden. Sie sind besorgt, dass neue russische Eliten alle ersetzen werden. Das wird auch passieren. Sie werden alle austauschen - die Regierung, das Militär, sogar die Wirtschaftseliten.
"Die russische Propaganda beeinflusst die Mentalität der Menschen. Viele haben keinen Zugang zu anderen Informationen als diesen. Und sie beginnen, den Westen, die Nato und die Ukraine als Bedrohung wahrzunehmen."
Valery Kavaleuski
Ist das der kritische Punkt, an dem Sie ansetzen wollen?
Auch. Der russische Weg zu Einflussnahme ist Propaganda und Desinformation. Im Moment wird das Bild von Russland als Retter gezeichnet, als jemand, der die Unabhängigkeit der Länder sichert. Man suggeriert, dass die Präsenz russischer Truppen auf belarussischem Boden eine gute Sache sei, weil sie eine Invasion aus dem Westen verhindern könnten.
Glauben die Menschen das wirklich?
Einige Leute könnten das glauben, und das ist der Punkt. Die russische Propaganda beeinflusst die Mentalität der Menschen. Viele haben keinen Zugang zu anderen Informationen als diesen. Und sie beginnen, den Westen, die Nato und die Ukraine als Bedrohung wahrzunehmen. Es ist ein Kampf auf dem Schlachtfeld der Information. Und leider wird diese Schlacht nicht von der internationalen Gemeinschaft geführt. Es gibt keinen systematischen Versuch der internationalen Gemeinschaft, dem belarussischen Volk qualitative, objektive Informationen zu liefern.
Mit anderen Worten: Sie erwarten mehr Anstrengungen von den westlichen Partnern?
Einige unabhängige belarussische Medien liefern diese Information. Aber unsere Ressourcen sind begrenzt. Was wir tun können, ist, jede kleine Lücke im System zu finden, um die Bevölkerung zu informieren. Doch es muss viel mehr getan werden, um die Belarussen über die tatsächliche Situation in der Ukraine zu informieren. Um zu zeigen, wer hier der Täter ist.
Vor Kurzem waren Sie in Deutschland und haben sich mit Vertretern des Auswärtigen Amtes und des Kanzleramtes getroffen.
Ja, das ist richtig. Wir hatten mehrere Treffen, auch im Bundestag, um auf die Krise in Belarus aufmerksam zu machen, aber auch, um nach Lösungen für die Probleme zu suchen, mit denen wir konfrontiert sind. Um Deutschland in Richtung eines direkteren und aktiveren Engagements zu bewegen.
Gleichzeitig setzt sich Außenministerin Annalena Baerbock für viele andere Länder ein. In Reden spricht sie über die Ukraine und Palästina, sie spricht über Frauen im Iran. Wenn Sie sie persönlich treffen würden: Würden Sie mehr Aufmerksamkeit für die humanitäre Katastrophe in Ihrem Land fordern, etwa für die gefolterten politischen Häftlinge?
Das müsste ich nicht, denn Annalena Baerbock tut dies bereits. Und natürlich sehe und schätze ich die Aufmerksamkeit der deutschen Regierung für die prekäre Situation der politischen Gefangenen in Belarus. Aber es gibt Worte und es gibt Taten.
Wie meinen Sie das?
Es sollte auch praktische Schritte geben, um diese Erklärungen zu untermauern. Wir denken, dass Deutschland mehr tun kann. Sicherlich hat Deutschland als eine global agierende Macht viele Prioritäten, viele Herausforderungen, die es in der Welt zu bewältigen gilt. Aber gleichzeitig ist es ein effektiver Regierungsapparat, der viele Herausforderungen auf einmal angehen sollte. Und Belarus muss priorisiert werden. Noch einmal: Belarus ist nicht nur ein Problem, sondern kann auch eine Lösung sein.
Über den Gesprächspartner
- Valery Kavaleuski ist ehemaliger belarussischer Diplomat und wurde am 9. August 2022 von Oppositionsführerin Swjatlana Zichanouskaja als stellvertretender Leiter und Vertreter für Auswärtige Angelegenheiten im United Transitional Cabinet of Belarus ernannt. Dieses Kabinett steht im Gegensatz zur faktischen Regierung des belarussischen Diktators Alexander Lukaschenko.
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