Die Grünen-Bundestagsabgeordneten Deborah Düring und Karoline Otte reisen derzeit durch die Ukraine und Moldau. Im Interview mit unserer Redaktion spricht Düring über ihre Eindrücke und ist überzeugt: Militärische Unterstützung und Hilfe beim Wiederaufbau sind kein Widerspruch.
Der russische Krieg gegen die Ukraine kostet unzählige Menschenleben – und er schafft jeden Tag neue Zerstörungen. Der ukrainische Ministerpräsident Denys Schmyhal hat die Kosten für den Wiederaufbau seines Landes im Juli auf mehr als 750 Milliarden Dollar geschätzt.
Die Grünen-Bundestagsabgeordneten Deborah Düring und Karoline Otte haben gerade vor Ort Menschen besucht, die schon jetzt mit dem Wiederaufbau beschäftigt sind. Düring, entwicklungspolitische Sprecherin ihrer Fraktion, hat im Zug von Kiew ins Nachbarland Moldau einige Minuten Zeit für ein telefonisches Interview mit unserer Redaktion.
Frau Düring, was ist der wichtigste Eindruck, den Sie aus der Ukraine mitnehmen?
Deborah Düring: Mich hat vor allem die Widerstandskraft der Gesellschaft beeindruckt, aber auch die Tatkraft und die Solidarität. Wir haben ein Projekt besucht, bei dem vor allem junge Ukrainerinnen und Ukrainer gemeinsam mit Freiwilligen aus der ganzen Welt zerstörte Häuser in Lukashivka, einem Dorf in der Region Tschernihiw, wiederaufbauen, das einige Tage von der russischen Armee besetzt war. Die Solidarität miteinander und die gegenseitige Unterstützung der vielen Menschen war sehr beeindruckend.
Und was ist Ihre wichtigste Schlussfolgerung als Politikerin?
Wir müssen die Ukraine natürlich weiter militärisch unterstützen. Wir müssen aber auch die Organisationen und die Zivilgesellschaft vor Ort mit aller Tatkraft unterstützen, um den permanenten Wiederaufbau zu gewährleisten.
Hierzulande wirkt das auf manche Menschen wie ein Widerspruch: Einerseits schicken wir Waffen in die Ukraine – andererseits aber auch viel Geld, um die Zerstörungen des Krieges rückgängig zu machen.
Das mag auf den ersten Blick abstrus erscheinen. Aber vor Ort sieht man, warum beides nötig ist. Die Ukraine muss sich erstens gegen die russische Invasion verteidigen können. Gleichzeitig wird in der Ukraine jeden Tag viel von der russischen Armee zerstört: Häuser, Wasser- und Energieinfrastruktur. Die Menschen sind teilweise ohne Strom, haben keinen Zugang zu fließend Wasser oder haben kein Dach über dem Kopf. Während der Krieg tobt, müssen sie vor Ort leben und überleben. Deswegen finde ich nicht, dass sich beides widerspricht. Es muss sogar Hand in Hand gehen.
Dem Deutschen Städtetag zufolge gab es vor der russischen Invasion 73 Partnerschaften zwischen deutschen und ukrainischen Kommunen – inzwischen sind es 167. Wie wichtig ist diese Zusammenarbeit für den Wiederaufbau?
Städtepartnerschaften sind vor allem wichtig, um Ressourcen miteinander zu teilen. Wir waren in der Stadt Tschernihiw, die sowohl eine Partnerschaft mit Memmingen als auch mit Aachen unterhält. Der Bürgermeister hat uns erzählt, dass aus Memmingen unglaublich viele humanitäre Hilfsgüter kamen. Gleichzeitig tauscht sich seine Verwaltung mit der Verwaltung in Aachen aktuell darüber aus, wie sich Häuser mit einer guten Wärmedämmung wiederaufbauen lassen oder wie man in Zukunft mit Mülltrennung und einer widerstandsfähigen Wasserinfrastruktur umgeht. Die Partnerschaften ermöglichen einen Austausch von Gütern, aber auch von Wissen. Hinzu kommt, dass sich die Menschen dieser Städte füreinander verantwortlich fühlen. Da wird Solidarität sehr gut greifbar.
Deborah Düring: "Viele Menschen kehren mit Traumata aus den Kämpfen zurück"
Die Ukraine gilt nach Russland als zweitkorruptestes Land Europas. Besteht nicht die Gefahr, dass internationale Hilfe an Stellen versickert, wo sie nicht hingehört?
Nach meinem Eindruck gehen die Akteurinnen und Akteure sehr ehrlich und selbstkritisch damit um. Ich habe das Gefühl, dass das Problem hier allen bewusst ist und dass man in der tagtäglichen Arbeit vor Ort gegen Korruption vorgeht. Es gibt zum Beispiel die Dream-Plattform, auf der die Wiederaufbau-Projekte der verschiedenen Kommunen digital gesammelt werden. Dann wird versucht, die passenden Unterstützungsleistungen zu finden: internationale, staatliche oder privatwirtschaftliche Gelder. Dieser Prozess ist auf eine hohe Transparenz angelegt, die Korruption erschwert.
Als Bundeskanzler Olaf Scholz Anfang 2022 das 100-Milliarden-Euro-Sondervermögen für die Bundeswehr verkündet hat, haben Sie auf eine Verabredung im Koalitionsvertrag hingewiesen. Dort steht: Die Ausgaben für Krisenprävention, humanitäre Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit sollen in gleichem Maße steigen wie die Ausgaben für Verteidigung. Das erscheint aus heutiger Sicht illusorisch: Der Wehretat soll im Bundeshaushalt 2024 steigen – während alle anderen Ministerien sparen müssen.
Ich bin weiter der festen Überzeugung, dass die Haushalte für humanitäre Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit in gleichem Maße wie der Verteidigungshaushalt steigen müssen. Für eine resiliente Gesellschaft in der Ukraine braucht es nicht nur militärische Unterstützung. Auch humanitäre Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit sind in der Ukraine wichtig. Generell dürfen wir Kriege und Krisen nicht gegeneinander ausspielen.
Welche Rolle wird die Ukraine für die deutsche Entwicklungszusammenarbeit spielen, wenn der Krieg – hoffentlich – irgendwann vorbei ist?
Die Ukraine wird langfristig Unterstützung brauchen. Wenn der Krieg eines Tages zu Ende ist, muss unglaublich viel wiederaufgebaut werden. Wir sind in der Ukraine an einem Minenräumkommando vorbeigekommen. Man geht davon aus, dass das Räumen der Minen Jahrzehnte dauern wird. Hinzu kommt der Aufbau von Häusern, Kindergärten, Schulen, Krankenhäusern. Wir dürfen auch die psychische Unterstützung nicht vergessen. Viele Menschen kehren mit Traumata aus den Kämpfen oder den befreiten Gebieten zurück. Sexualisierte Gewalt ist in der Ukraine wie in jedem anderen Konflikt auch ein großes Thema. All das wird uns auch in Deutschland noch Jahrzehnte begleiten.
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