- Der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk pocht seit Beginn des Krieges hartnäckig auf militärische Unterstützung durch Deutschland.
- Seine häufig undiplomatischen Worte nehmen ihm viele Menschen übel.
- Im Interview mit unserer Redaktion erklärt Melnyk, warum eine Beitrittsperspektive für sein Land so wichtig ist - und warum er hofft, dass Olaf Scholz nach Kiew fährt.
Herr Botschafter, wie viele Stunden schlafen Sie pro Nacht?
Andrij Melnyk: Vier, fünf Stunden. Wenn das klappt, ist es gut. Manchmal sind es weniger, weil ich einfach nicht einschlafen kann.
Der Krieg in Ihrem Heimatland dauert jetzt 84 Tage. Ist dieser Zustand für Sie schon so etwas wie grausame Normalität geworden?
Nein, er ist keine Normalität geworden – und das kann er auch nicht. Dieser Krieg betrifft nicht nur meine Verwandten und Freunde, sondern alle meine Landsleute. Ich hoffe, dass sich auch Deutschland nicht an diesen Krieg gewöhnt. Es ist auch meine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass das nicht passiert.
Sie polarisieren hierzulande. Es gibt viele Menschen, die Ihr Auftreten für einen Botschafter zu forsch, zu undiplomatisch finden. Was antworten Sie diesen Menschen?
Ich wünsche ihnen, dass sie auch solche Botschafter haben, wenn Deutschland – Gott beschütze – einmal in eine ähnliche Situation gerät wie die Ukraine. Es braucht dann Menschen, die bereit sind, Zähne zu zeigen. Sonst hört niemand zu. Das ist der Krieg. Ich kann nachvollziehen, dass das für manche Leute unangenehm ist. Aber ich muss die Empörung in Kauf nehmen.
"Die Zeitenwende wird leider nicht umgesetzt"
Deutschland hat schon viel für die Ukraine gemacht. Die Bundesregierung hat in den vergangenen Wochen zahlreiche Lieferungen von Waffen – auch von schwerem Gerät – angekündigt. Das wäre Anfang dieses Jahres für viele Deutsche noch undenkbar gewesen. Offenbar hakt es aber bei der Lieferung, beim Zusammenspiel von Industrie, Bundeswehr und Politik.
Ja, das ist ein Problem. Die Zeitenwende wird leider nicht umgesetzt. Wir hoffen, dass man den Ernst der Lage erkennt. Wenn die Bundesregierung zögert, sendet sie damit falsche Signale. Sie muss wirklich handeln. Ich verstehe nicht, warum die Ampel auf die Bremse tritt statt aufs Gaspedal.
Zur Wahrheit gehört aber auch: Die Gepard-Panzer, die Deutschland liefern will, wären die ersten westlichen Panzer in der Ukraine.
Ich habe wenig Hoffnung, dass die Panzer wirklich kommen, weil bisher keine Munition gefunden wurde. Diese Waffe können wir gut gebrauchen. Aber wir wussten von Anfang an, dass Munition dafür fehlt. Manche Menschen glauben, dass die Gepard-Panzer schon an der Front sind. Dabei hat man noch nicht einmal mit der Ausbildung begonnen, weil das ohne Munition keinen Sinn ergibt. Mein Außenminister Dmytro Kuleba sagte vor Kurzem, als er in Berlin war: Vielleicht werden wir diesen Panzer eines Tages nur noch als Denkmal im Museum aufstellen können.
Bundeskanzler
Ich glaube, dass es keine vorgeschobenen Argumente mehr geben sollte. Es geht auch um die Symbolik. Er wird erwartet. Gestern hat mein Präsident wieder mit ihm gesprochen und ihn zum wiederholten Mal eingeladen, nach Kiew zu kommen. Es gibt auch eine Einladung für einen Auftritt vor dem ukrainischen Parlament. Ich sehe keinen Grund für ihn, nicht zu kommen. Wenn Herr Scholz stattdessen hier Dinge bewegen will, hätte er die Chance dazu: Er könnte die Lieferung von Leopard- oder Marder-Panzern ankündigen. Darüber wurde immer noch keine Entscheidung getroffen.
"Wir wollen einfach ein faires Verfahren"
Wagen Sie es manchmal, an die Zeit nach dem Krieg zu denken?
Ja, durchaus. Wenn man das nicht macht, wird man verrückt. Diese ständigen Gedanken an den Krieg und das Trauma belasten jeden Ukrainer. Zur Zukunft gehört für uns eine EU-Beitrittsperspektive. Auch das ist ein wichtiges Ziel. Im Moment brauchen wir Waffen, aber gleichzeitig benötigen wir eine politische Entscheidung über den EU-Kandidatenstatus, die bereits im Juni getroffen werden soll. Leider herrscht in der Ampel-Koalition noch keine Einigkeit. Die Parteien unterstützen uns, aber das letzte Wort hat das Kanzleramt. Wir hoffen, dass Deutschland in der EU eine führende Rolle übernimmt, wenn es um einen Status der Ukraine als Beitrittskandidat geht.
Aber ein EU-Beitritt wäre nicht sofort möglich – sondern erst nach einem jahrelangen, aufwendigen Prozess.
Das stimmt. Ein Kandidatenstatus für die Ukraine heißt noch nicht automatisch Mitgliedschaft. Wir wissen nicht, wie lange es bis zum Beitritt dauern würde. Vielleicht zehn Jahre, vielleicht mehr, hoffentlich weniger. Aber dieser Prozess muss beginnen. Wenn wir den Beitritt dann vermasseln, ist es unsere Schuld. Wir wollen keine Sonderbehandlung und keine Hintertür. Wir wollen einfach ein faires Verfahren – genauso wie alle anderen Länder auch.
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