Bei den Feierlichkeiten zum Sieg über den Nationalsozialismus vergangene Woche wurde es offenkundig: Russlands Militär ist nicht im besten Zustand. Doch wie schlecht steht die russische Armee tatsächlich da? Ein Experte gibt Antworten.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Lukas Weyell sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Am 9. Mai wird in Moskau jedes Jahr der Sieg über die Nationalsozialisten im Zweiten Weltkrieg gefeiert. In der Regel wird die Siegesparade groß inszeniert, zahlreiche modernste Panzer und Flugzeuge sind zu sehen. Das Staatsfernsehen zeigt die Rede des russischen Präsidenten umringt von hohen Militärs und Veteranen des "Großen Vaterländischen Krieges", wie der Zweite Weltkrieg in Russland genannt wird.

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Auch im vergangenen Jahr, als der Krieg in der Ukraine bereits in vollem Gange war, wurden noch modernste Panzer und Haubitzen auf dem Roten Platz in Moskau zur Schau gestellt. Wladimir Putin zeigte sich siegessicher, adressierte die Angehörigen der kämpfenden Soldaten und versprach ihnen Unterstützung und großzügige Hilfen im Todesfall.

Keine Flugshow, keine Kampfpanzer

Doch dieses Jahr war vieles anders. Bereits in der Woche vor den Feierlichkeiten kam es zu Störungen durch Drohnenangriffe auf den Austragungsort. Mehrere Flugkörper explodierten nahe dem Kreml. Wer dahinter steckt, ist nach wie vor unklar: Die russische Regierung machte die Ukraine für den Angriff verantwortlich. Kiew dementierte und erklärte, es handle sich um eine fingierte Aktion, um die russische Bevölkerung für den Krieg zu mobilisieren.

Auch am Tag der Parade selbst schien einiges nicht nach Plan zu laufen. Im Gegensatz zu den Vorjahren wurden weder moderne Kampfpanzer gezeigt, noch Flugzeuge. Die Vermutung liegt nahe, dass das Gerät in der Ukraine gebraucht wird – oder vielleicht schon gar nicht mehr existiert.

Im Verlauf des vergangenen Jahres wurden zahlreiche russische Panzer in der Ukraine zerstört oder mussten aufgegeben werden. Der niederländischen Organisation "Oryx" zufolge sollen beinahe 2.000 Panzer außer Gefecht gesetzt sein. Der Nachschub-Bedarf ist entsprechend hoch: Laut Bericht der "Frankfurter Rundschau" werden inzwischen sogar 60 Jahre alte T-62-Panzer durch die russische Armee eingesetzt.

Experte: "Zeigt, wie isoliert Russland ist"

Gut möglich also, dass Russland gar keine modernen Panzer mehr für die Parade zur Verfügung hatte. Auch sonst scheint die Parade kein gutes Licht auf die russische Armee zu werfen. Politikwissenschaftler Andreas Heinemann-Grüder von der Universität Bonn erklärt auf Anfrage unserer Redaktion: "Eine Armee, die immer mehr auf private Militärfirmen zurückgreifen muss und selbst damit nach bald neun Monaten eine Kleinstadt wie Bachmut nicht einnehmen kann, ist in der Tat in einem desolaten Zustand." Und das sei auch am 9. Mai so zu sehen gewesen.

So sei zwar auch ein Fahrzeug, das Atomraketen transportieren kann, bei der Parade dabei gewesen, aber "ansonsten dominierten die marschierenden Truppen, nicht die Show der Waffen - ein militaristisches Ritual des 19. Jahrhunderts, das nur noch in östlichen Autokratien populär ist."

Es werde ein militärisches Spektakel aufgeführt, das an den monarchischen Pomp eines Kaiser Wilhelm II. erinnere, so Heimann-Grüder, allerdings seien nur wenige Staatsgäste aus der ehemaligen Sowjetunion bei den Feierlichkeiten dabei gewesen: "dies zeigt, wie isoliert Russland ist."

Zahlreiche Paraden abgesagt

Auch das Publikum machte keinen besonders euphorischen Eindruck bei den diesjährigen Feierlichkeiten. Politikwissenschaftler Heimann-Grüder erklärt: "Putin beschwört nochmals, Russland wäre angegriffen worden, aber die Siegesgewissheit ist verflogen. Die öffentliche Stimmung neigt sich einer Beendigung des Krieges zu, die früheren Durchhalteparolen ziehen nicht mehr."

Auch deshalb seien ungefähr 20 Paraden zum "Tag des Sieges" in russischen Städten abgesagt worden, während die Parade in Moskau bescheiden gehalten wurde. Grund seien Sicherheitsbedenken, die wachsenden Zweifel, dass 2023 ein Sieg errungen werden kann und die mögliche Sichtbarkeit von heutigen Kriegsopfern wie verletzten Veteranen.

"Schließlich hätten Ehefrauen und Soldatenmütter Bilder von ihren getöteten Angehörigen hochhalten können", So Heinemann-Grüder. Ihm zufolge hat die Inszenierung ihr Ziel verfehlt: "Die Parade ist ein Ereignis für die Fernsehschirme, ohne Enthusiasmus lösen die Bilder aber einen gegenteiligen Effekt aus."

Über den Experten: Andreas Heinemann-Grüder ist Senior Fellow beim CASSIS, außerplanmäßiger Professor für Politikwissenschaft an der Universität Bonn und Senior Researcher am Bonn International Centre for Conflict Studies. Seine Forschungsschwerpunkte sind Politik und Konflikte im postsowjetischen Raum, vergleichender Föderalismus, das Wiederaufleben des Autoritarismus und gewaltsame politische Krisen mit irregulären bewaffneten Gruppen.

Verwendete Quellen:

  • Schriftliches Statement von Andreas Heinemann-Grüder
  • FR.de: Russland greift auf Uralt-Panzer aus Sowjetzeiten zurück
  • oryxspioenkop.com: Attack On Europe: Documenting Russian Equipment Losses During The 2022 Russian Invasion Of Ukraine
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