Am Wochenende fiel die ukrainische Stadt Awdijiwka an russische Truppen. Jetzt herrscht in der Region die Sorge, ihre Stadt könnte die nächste sein. Viele schwanken zwischen bleiben und fliehen.

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Tage nach dem Angriff liegt der beißende Geruch von verkohltem Beton noch immer in der kalten Winterluft in Selydowe. "Es war ein Albtraum", sagt Olena Obodez, als sie vom Beschuss der Klinik vergangene Woche erzählt. Der Krieg rückt wieder näher an die ostukrainische Stadt. Und seit das benachbarte Awdijiwka am Wochenende an die russischen Angreifer fiel, denken viele Menschen in Selydowe an Flucht.

Die Menschen in Selydowe haben Angst, ihre Stadt könnte auch bald fallen

"Sie reden darüber, ob sie sich evakuieren lassen sollen oder nicht", sagt Obodez während in der Ferne die Artillerie dumpf dröhnt. "Die Leute haben Angst. Meine Tochter bittet mich jeden Tag, zu gehen." Doch noch will die 42-Jährige bleiben – obwohl sie den Angriff am Mittwoch aus nächster Nähe erlebte.

Obodez arbeitet seit acht Jahren in dem nun beschossenen Krankenhaus. Als die Rakete mitten in der Nacht in der Entbindungsstation einschlug, eilte sie zur Klinik, um die Patientinnen und Patienten in Sicherheit zu bringen. Für eine Schwangere sowie eine Mutter und ihren neunjährigen Sohn kam die Hilfe zu spät. Als Obodez vom eingestürzten Dach und der in Flammen stehenden Klinik erzählt, kommen ihr die Tränen.

Selenskyj
Noch Ende Dezember besuchte Präsident Selenskyj die Region rund um Awdijiwka und dankte den Menschen vor Ort für ihren Einsatz. © IMAGO/Bestimage/Ukraine Presidency

Jetzt vernageln Stadtangestellte die kaputten Fenster des Krankenhauses, drinnen sammeln Klinikmitarbeiter zwischen Glassplittern und verbogenem Metall medizinisches Material in Einkaufstüten, das nach dem Angriff noch brauchbar ist.

Selydowe liegt rund 30 Kilometer östlich der Industriestadt Awdijiwka, aus der sich die ukrainischen Truppen am Samstag nach monatelangen schweren Kämpfen zurückzogen. Die Niederlage wirft bei den Bewohnern der umliegenden Städte und Dörfer quälende Fragen auf: Müssen sie jetzt fliehen? Oder können sie noch hoffen, dass ihre Soldaten sie schützen?

Es ist Aufgabe der Polizei, die Zivilisten aus den immer gefährlicher werdenden Gebieten zu evakuieren. Einige Beamte sind selbst geflohen – aus den inzwischen von Russland besetzen Regionen. Wegen der russischen Luftangriffe und Vorstöße verließen immer mehr Menschen die Gegend, sagt Oleksandra Gawrylko, die Sprecherin der Regionalpolizei, ohne jedoch Zahlen zu nennen.

Eigentlich hätten die Menschen schon vor einem Jahr gehen sollen, sagt sie. "Jetzt evakuieren wir öfter getötete Zivilisten, damit ihre Familien sie beerdigen können."

Viele Häuser wurden in Schutt und Asche gebombt

Neben dem sowjetischen Denkmal aus dem Zweiten Weltkrieg in Selydowe wagen sich ein paar Menschen in die immer noch schwelenden Häuser zurück, die eine Stunde vor dem Krankenhaus getroffen worden waren. Sie versuchen aus ihren Wohnungen zu retten, was noch zu retten ist. Panisch schleppt eine Frau Säcke voller Habseligkeiten aus dem Haus. Sie werde trotzdem in Selydowe bleiben, sagt sie. Ihre Tochter hingegen will nur noch weg.

Auch Olena Osadtscha, eine 40 Jahre alte Staatsanwältin, hat sich zur Flucht entschlossen. Es ist bereits ihre zweite, denn eigentlich stammt sie aus der Regionalhauptstadt Donezk, die prorussische Separatisten bereits vor zehn Jahren einnahmen. Die Behörden boten Osadtscha Arbeit im weiter westlich gelegenen Dnipro an. "Aber ich möchte nicht nach Dnipro gehen. Dort ist es auch nicht sicher", sagt sie.

Fast zwei Dutzend der 350 Angestellten wollten nach dem jüngsten Angriff die Stadt verlassen, sagt Oleg Kiatschko, der Leiter des zerstörten Krankenhauses. "Wir alle denken darüber nach, wo wir Zuflucht finden könnten. Aber wenn es nötig ist, dass wir jetzt hier sind, dann bleiben wir hier. Ich werde vorerst nirgendwo hingehen", sagt der 46-Jährige.

Auch andere Bewohner scheinen entschlossen, auf jeden Fall in Selydowe zu bleiben – zum Beispiel jene, die diesen Monat ein Sushi-Restaurant wiedereröffneten. (afp/the)

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