• Zuerst hat Russland seine Gaslieferungen nach Deutschland drastisch gedrosselt, zuletzt ganz eingestellt.
  • Die angeblichen Gründe sind Wartungsarbeiten und eine fehlende Turbine.
  • Die Reparaturen sollen planmäßig am Donnerstag beendet werden, auch die Turbine wird geliefert – dennoch ist nach den jüngsten Äußerungen von Kremlchef Wladimir Putin völlig offen, ob Moskau wie versprochen seine Lieferverträge erfüllt.
Eine Analyse
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Bereits seit dem 11. Juli fließt kein Gas mehr durch die Ostsee-Pipeline Nord Stream 1 nach Deutschland. Russland hatte bereits zuvor, ab Anfang Juni, die Lieferung massiv gedrosselt, im Juli dann endgültig den Hahn zugedreht. Der angebliche Grund: Wartungsarbeiten und eine fehlende Turbine, wie Kremlchef Wladimir Putin immer wieder betont.

Sollte Russland die in Kanada reparierte Turbine für Nord Stream 1 nicht zeitnah zurückerhalten, drohe Ende Juli die tägliche Durchlasskapazität der Leitung nochmals deutlich zu fallen, sagte Putin nun in der Nacht zum Mittwoch laut der staatlichen russischen Nachrichtenagentur Tass. Er äußerte sich am Rande eines Spitzentreffens mit dem iranischen Präsidenten Ebrahim Raisi und dem türkischen Staatschef Recep Tayyip Erdogan in Teheran, bei dem es offiziell vor allem um die Lage im Bürgerkriegsland Syrien ging.

"Wird er uns Gas geben? Wird er uns den Zustrom abdrehen? Europa hängt wieder an den Lippen von Putin", kommentiert Russland-Experte Janis Kluge von der Berliner Denkfabrik Stiftung Wissenschaft und Politik, die auch die Bundesregierung berät, die jüngsten Äußerungen auf Twitter. Das fragen sich derzeit auch Bundespolitik, deutsche Wirtschaft und Privathaushalte. Die Antwort kennt jedoch nur Moskau.

Die "Nord-Stream-1-Saga", wie es Kluge ausdrückt, geht mit Putins Auftritt in Irans Hauptstadt weiter. Mitten in der Energiekrise spielt Russlands Präsident weiter die Pipeline-Karte, um den Westen und vor allem Deutschland zu Zugeständnissen zu zwingen. Denn Putin machte klar: Selbst wenn Russland die Turbine in Kürze geliefert bekommt, heißt das nicht automatisch, dass dann das Gas wieder wie gewohnt fließt.

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Was es mit der Turbine für die Pipeline Nord Stream 1 auf sich hat

Nord Stream 1 wurde 2011 in Betrieb genommen und ist die wichtigste Gasleitung von Russland nach Deutschland. Sie hat eine Kapazität von theoretisch maximal 167 Millionen Kubikmeter täglich. Wegen der fehlenden Turbine habe diese Leistung aber auch vor der Wartungsphase nicht annähernd ausgeschöpft werden können, sagt Moskau. Aus russischer Sicht ist die Turbine ein unverzichtbares Bauteil für den Betrieb der 1.200 Kilometer langen Pipeline. Sie ist Gazprom zufolge für die Kompressorstation Portowaja wichtig, die wiederum für den Betrieb von Nord Stream 1 essenziell sei.

Aus Sicht der Bundesregierung sind das alles Ausreden. Demnach dient die Turbine Russland nur als Vorwand zur Drosselung der Gaslieferung. "Es handelt sich um eine Ersatzturbine für den Einsatz im September", wie eine Sprecherin des Bundeswirtschaftsministerium "Tagesschau.de" sagte.

Völlig offen ist, ob nach den Wartungsarbeiten (die planmäßig bis Donnerstagmorgen 6 Uhr gehen) wieder Gas durch die Ostsee-Pipeline fließt – und wie viel. In der Nacht zu Mittwoch nannte Putin zwei neue mögliche Hindernisse, die zu Verzögerungen führen könnten:

  • Fehlende Dokumente: "Natürlich müssen wir diese bekommen, denn es ist unser Eigentum, es ist das Eigentum von Gazprom", erklärte Putin. Der staatliche Erdgaskonzern müsse ihm zufolge verstehen, ob die Maschinen unter Sanktionen stehen oder nicht. "Vielleicht nehmen sie sie morgen zurück", warf der Kremlchef in den Raum. Fakt ist: Kanada hatte die mittlerweile reparierte Turbine zwar tatsächlich wegen der westlichen Sanktionen infolge des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine lange zurückgehalten. Zuletzt hatte das Land aber entschieden, die Turbine an Deutschland zu übergeben. Nach Darstellung der Bundesregierung ist die Lieferung des Geräts von den EU-Sanktionen gegen Russland ausgenommen, weil diese sich nicht gegen den Gastransit richteten. Deutschland hat zudem ein erhebliches Eigeninteresse, dass die Turbinen nicht länger als Vorwand für einen endgültigen Stopp der Gaslieferungen oder deren anhaltende Drosselung dienen können.
  • Reparaturarbeiten an einer zweiten Turbine: Putin zufolge gibt es Probleme mit einer weiteren Turbine. Wegen der notwendigen Reparatur eines "weiteren Aggregats" drohe die tägliche Durchlasskapazität der Pipeline Ende Juli noch weiter zu fallen, auf 33 Millionen Kubikmeter pro Tag, sagte Putin. Auch zeichnet sich ab, dass sich die gleiche Argumentationslinie Moskaus wie bei Turbine 1 wiederholt: Der Westen stelle sich mit den eigenen Sanktionen ein Bein.

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Fazit

Zwar betonte Putin in Teheran, der russische Gaskonzern Gazprom werde seine Verpflichtungen "in vollem Umfang" erfüllen: "Gazprom hat seine Verpflichtungen erfüllt, erfüllt sie jetzt und wird sie auch in Zukunft erfüllen." Zugleich lassen aber die jüngsten Äußerungen des Kremlchefs darauf schließen, dass Nord Stream 1 auch nach Ende der Wartungsarbeiten und selbst bei Einbau der Turbine womöglich nicht wieder auf volle Leistung hochgefahren wird.

Denkbar wäre, dass Moskau so die Inbetriebnahme von Nord Stream 2 erzwingen will. "Wir haben noch eine fertige Trasse – das ist Nord Stream 2. Die können wir in Betrieb nehmen", bemerkte Putin in der Nacht. Die schon vor dem Ukraine-Krieg höchst umstrittene Pipeline wurde erst im vergangenen Jahr fertiggebaut. Nach der Invasion in der Ukraine setzte Deutschland das Genehmigungsverfahren für den Betrieb der Leitung aber aus. Putin behauptet mit Blick auf die Energiekrise, dass durch Lieferungen über Nord Stream 2 das Preisniveau für Gas wieder sinken und sich die Situation insgesamt entspannen würde.

In jedem Fall bestätigen die Querelen um die beiden Ostsee-Pipelines Russlands Ruf, seine Energielieferungen als geopolitisches Druckmittel einzusetzen. Und Deutschland ist dem in der gegenwärtigen Lage weitestgehend ausgeliefert – zu einem erheblichen Teil selbst verschuldet.

Mit Material von dpa und AFP.

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