Die Affäre um Wagner-Chef Prigoschin hat Risse in Putins Machtsystem zum Vorschein gebracht. Könnte Putin gestürzt werden? Wie ginge es dann weiter? Hat Demokratie eine Chance und was würde es für den Krieg in der Ukraine bedeuten? Ein Russland-Experte gibt Antworten – und nennt auch Namen möglicher Nachfolger.
"Wie viel Macht bleibt Putin?", "Merkt Putin Verfall seiner Macht nicht?" oder "CIA-Chef: Putins Macht bröckelt" lauten derzeit die Schlagzeilen. Die internationale Gemeinschaft macht sich Gedanken darüber, was nach Putin kommen könnte.
Dabei werden sehr unterschiedliche Szenarien diskutiert. Angefangen bei der Wahl eines neuen Präsidenten über Krankheit hin zu einem gewaltsamen Umsturz oder Auftragsmord. Aber was davon sind ernsthafte Planspiele, und was bloße Spekulation? "Die angestrebte Variante ist sicherlich ein geordneter Übergang", sagt Historiker und Russland-Experte Wolfgang Mueller. Dieser dürfte so ablaufen wie in der Vergangenheit: "Ein Nachfolger wird als Vize-Ministerpräsident oder Ministerpräsident der breiteren Öffentlichkeit bekannt gemacht und aufgebaut. Wenn er an Profil gewonnen hat, tritt der Präsident vorzeitig zurück oder kandidiert nicht mehr", sagt Mueller.
Mehrere Szenarien denkbar
Ein solcher Machtübergang hätte aus seiner Sicht den Vorteil, dass die verschiedenen Gruppen, die in Russland an der Macht beteiligt sind, in den Prozess der Kandidatenwahl und des Transfers eingebunden werden könnten. "So kann man verhindern, dass Verwerfungen und Konflikte, die in dem System, in dem Putin in den letzten Jahren eine Art Schiedsrichterfunktion ausgeübt hat, eskalieren", kommentiert Mueller.
In einem weiteren Szenario hält er es für denkbar, dass Machtgruppierungen mit eigenen Kandidaten an die Öffentlichkeit gehen. "Das hätte aber deutlich mehr Konfliktpotenzial", ist sich Mueller sicher.
Schließlich könnte es auch ein kriegerisches oder gewaltsames Szenario geben, in dem Putin gestürzt wird. "Das halte ich allerdings für unwahrscheinlich, da die Militarisierung der Gesellschaft dafür sehr gering erscheint", schätzt Mueller. Es gebe aber in der Tat Gruppen, die militarisiert seien und eine Rolle in der Nachfolgedebatte spielen – etwa der Geheimdienst und die Armee.
"Dass es zu einem kriegerischen Konflikt kommt, halte ich mit Blick auf die Tradition in Russland dennoch für unwahrscheinlich", meint Mueller. In Russland werde schon lange nicht mehr geputscht – wenn man den Putschversuch von 1991, der stark vom russischen Geheimdienst KGB ausgegangen sei, beiseite lasse.
Es sei auch nicht auszuschließen, dass der Amtsinhaber schwer erkrankt oder im Amt an einer Krankheit stirbt. Dann würde es vermutlich trotzdem zumindest äußerlich einen geordneten Übergang geben, meint der Experte. Dass Putin dem Attentat eines ausländischen Geheimdienstes zum Opfer fällt, ist aus seiner Sicht sehr unwahrscheinlich.
Dmitri Patruschew und Alexej Djumin mögliche Nachfolger
"Mir erscheint das Szenario eines geordneten Übergangs am plausibelsten", kommentiert er. Ein Kandidat, der dabei von den Medien und der Russlandforschung häufig genannt werde, sei der derzeitige Agrarminister Dmitri Patruschew. Der 45-Jährige ist Bankmanager und Ökonom und seit 2018 im Amt. Er ist der Sohn des ehemaligen FSB-Chefs Nikolai Patruschew.
"Nikolai Patruschew wurde ebenfalls einst als Kandidat gehandelt. Mit ihm käme es aber nicht zu einem Generationswechsel – anders als bei Dmitri", kommentiert Mueller. Patruschew-Senior gilt als radikaler und europafeindlicher Hardliner. Würde sein Sohn das Land noch radikaler regieren als Putin?
Mueller rät zu Vorsicht bei derartigen Prognosen. Man könne nur wenig in die Menschen hineinschauen. "Dmitri Medwedew hat beispielsweise in seiner Amtszeit als Ministerpräsident versucht, sich als Liberaler zu präsentieren. Mittlerweile ist er einer der radikalsten Kriegshetzer aus den Reihen der Elite, die öffentlich in Erscheinung treten", sagt Mueller.
Ein weiterer Kandidat sei der Gouverneur der Oblast Tula, Alexej Djumin. "Er stammt aus dem Geheimdienst und war im Militärapparat mit führenden Positionen betraut", ordnet Mueller ein. Bei den Verhandlungen mit dem belarussischen Präsidenten Aljaksandr Lukaschenko im Zusammenhang mit der Prigoschin-Krise, dürfte Djumin eine gewisse Rolle gespielt haben.
Keine Vorbereitungen für Machtwechsel erkennbar
"Einen der Kandidaten für eine geordnete Übergabe 2024 vorzusehen, ist allerdings schon relativ spät", meint Mueller. Bislang gebe es noch keine erkennbaren Vorbereitungen in diese Richtung. "Die Rochade im Präsidentenamt 2008 hatte Putin zwei Jahre lang vorbereitet und die zur Auswahl stehenden Kandidaten inoffiziell präsentiert", erinnert Mueller.
Beide – Medwedew und der damalige Verteidigungsminister Sergej Iwanow – seien mit dem Amt eines Vize-Ministerpräsidenten ausgestattet worden, vermehrt in der Öffentlichkeit aufgetreten und hätten verschiedene Aufgaben erhalten. "Es war klar, dass das die beiden Kandidaten sind, bis die Wahl intern auf Medwedew gefallen ist", so Mueller.
Dass Russland sich kurzfristig auf den Weg zu einer pluralistischen Demokratie macht, sieht Mueller nicht. "Russland ist stark monokratisch geprägt, eine Herrschaft, die auf eine Person zugeschnitten ist. Zusätzlich übt der Präsident eine Art Schiedsrichterfunktion aus zwischen informellen Machtgruppen und Clans", erklärt er. Die Herrschaft werde jedoch vom Volk abgesegnet und formalisiert.
"Dem Wunsch eines großen Teils der Bevölkerung nach einer Beteiligung ist mit der Volkswahl Genüge getan. Es entspricht den Erwartungen und Ansprüchen von vielen Menschen in Russland", meint Mueller. Es sei schwer einzuschätzen, ob es die Mehrheit sei, jedoch stellten viele den Faktor Sicherheit über den Faktor Freiheit.
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Prognosen bleiben schwierig
Sollte Putin entmachtet sein, endet dann der Krieg in der Ukraine? Mueller sagt: "Es wird vom Nachfolger und von dem Zustand abhängen, in dem sich Russland, seine Eliten und der Krieg bis dahin befinden." Ein rascher Ausstieg wäre für einen Nachfolger leichter öffentlich zu vertreten, meint Mueller.
Aber: "Es ist sehr schwierig, ein Szenario zu prognostizieren." Die Ereignisse in der Geschichte Russlands zeigten, wie schwierig es sei, den Verlauf der Geschichte auch nur kurzfristig zu erahnen. "1916 hätte niemand prognostiziert, dass es 1917 eine Revolution in Russland gibt und der Zar abdanken wird und ein halbes Jahr später eine linksextreme Partei die Macht übernimmt. Gleichzeitig hätte 1990 niemand das Ende der Sowjetunion prognostiziert", erinnert er.
Außerdem sei das Innenleben der Akteure oft schwer zu beurteilen. "Michail Gorbatschow wurde 1985 zum neuen Generalsekretär der KPdSU gewählt, um die Sowjetunion schlagkräftiger zu machen. Niemand hat erwartet, dass er sechs Jahre später dabei zusehen würde, wie die Sowjetunion aufgelöst wird", sagt Mueller. Genauso hätte niemand am Beginn von Medwedews Amtszeit geahnt, dass es zwischen ihm und Putin zu einem offenen Konflikt über die Libyen-Politik kommt – am wenigsten Putin selbst. Und niemand hätte vermutet, dass Medwedew zehn Jahre später Hassbekundungen gegen den Westen, Forderungen nach einer Zerstückelung der Ukraine oder Drohungen mit Atomwaffen veröffentlichen würde.
Verwendete Quellen:
- derstandard.at: Wie viel Macht bleibt Putin?
- br.de: "Völlige Ohnmacht": Merkt Putin Verfall seiner Macht nicht?
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