In der Berichterstattung über den Krieg in der Ukraine geht es selten um die Situation der Kinder. Christine Kahmann von der Kinderhilfsorganisation UNICEF reiste vor Kurzem in die kriegsgebeutelte Region und erzählt im Gespräch mit unserer Redaktion von ihren Eindrücken.
Frau Kahmann, was bedeutet es für Kinder, während eines Krieges aufzuwachsen?
Christine Kahmann: Wir müssen uns vorstellen: Seit mehr als 600 Tagen und Nächten leben die Kinder in der Ukraine in einem permanenten Ausnahmezustand. Das sind mehr als 600 Tage, in denen die Kinder ihrer Kindheit beraubt werden. Je länger der Krieg dauert, desto größer ist das Risiko, dass sie langfristig davon geprägt sind.
Sind Kinder anfälliger, durch einen Krieg traumatisiert zu werden als Erwachsene?
Kinder leiden am meisten in Kriegen und Konflikten. Sie wachen immer wieder zu Bombenalarm auf. Sie verlieren Angehörige oder wissen nicht, ob sie ihre Väter wiedersehen. Viele sind mit Verlust konfrontiert. All das wirkt sich auf die Psyche der Kinder aus und hinterlässt schwere Wunden in ihren Seelen. UNICEF schätzt, dass mehr als 1,5 Millionen Kinder in der Ukraine an psychischen Belastungsstörungen, Depressionen oder sogar suizidalen Gedanken leiden. Deswegen leistet UNICEF gezielt Unterstützung für Kinder, um ihnen zu helfen, das Erlebte besser zu verarbeiten.
Kann es für Kinder trotz des Krieges eine Art Normalität geben, in der sie spielen können und einfach Kind sein können?
Wir waren in einem Ort in der Region Charkiw, der immer wieder unter Beschuss gerät. Dort haben uns Familien erzählt, dass sie wochenlang in Schutzkellern ausgeharrt haben, weil es draußen zu gefährlich war. In einem der Schutzkeller gibt es seit Kurzem einen Kindergarten. Uns wurde erzählt, dass vier- und fünfjährige Kinder es am Anfang gar nicht mehr gewohnt waren, miteinander zu spielen und ohne ihre Eltern zu sein. Erst nach einer Weile fassten die Kinder wieder Vertrauen. Es wurde gemeinsam gesungen, getanzt und gemalt und man hat gesehen: Wenn Kinder einen Moment unbeschwerter Kindheit erleben, dann lachen und spielen sie wieder miteinander und finden Halt.
Haben Kinder in Charkiw auch eine Möglichkeit, in die Schule zu gehen?
In Charkiw und den umliegenden Ortschaften können Kinder seit Kriegsbeginn nicht mehr in die Schule. Den Kindern fehlt so einerseits ein Ort zu lernen, aber auch die Möglichkeit sich auszutauschen, füreinander da zu sein oder zusammen Sport zu machen. Wir schätzen, dass nur ein Drittel der Kinder in der gesamten Ukraine am Präsenzunterricht teilnehmen kann.
Also zwei Drittel der Kinder in der Ukraine können nicht zur Schule gehen?
Die ukrainischen Behörden versuchen, wo immer möglich, eine Mischung aus Präsenz- und Distanzunterricht bereitzustellen. Vor allem in Frontnähe werden Schulen jedoch immer wieder angegriffen. Insgesamt wurden im Land 3.800 Schulen beschädigt oder zerstört. Für Präsenzunterricht braucht es deshalb sichere Schutzräume in den Schulen.
Wie kann so ein Schutzraum in der Nähe der Front aussehen?
In Charkiw haben wir mit den ukrainischen Behörden eine Schule im U-Bahn-System der Stadt eingerichtet. Dort können mittlerweile mehr als 1.700 Kinder wieder am Unterricht teilnehmen. Das ist jedoch nur ein kleiner Bruchteil der Kinder in der Region. Wir haben dort mit einer Jugendlichen gesprochen, die erzählt hat, dass sie durch die Schule jetzt wieder Hoffnung schöpft und Träume hat. Sie möchte Schauspielerin werden oder im IT-Bereich arbeiten. Das zeigt, wie wichtig Schulen sind.
Wie sprechen die Lehrer in den Schulen mit den Kindern über den Krieg?
Der Krieg hängt wie eine dunkle Wolke über dem Alltag der Kinder. Die Lehrerinnen gehen sehr offen mit der Situation um. Auch Kinder reden in einem vertrauten Umfeld offen über den Krieg und ihre Sorgen. Je nach Alter der Kinder versucht das Lehrpersonal den Kindern altersgerecht zu helfen, mit dem Erlebten umzugehen.
Sehen Sie die Gefahr, dass Jugendliche, die in diesem Umfeld aufwachsen, sich radikalisieren, da Nationalismus und der Hass auf Russland so präsent sind?
Ich habe mit vielen Jugendlichen gesprochen, die schwer gezeichnet sind von diesem Krieg, die aber trotzdem die Hoffnung nicht verlieren. Wir haben in Balakliya mit einem 17-Jährigen gesprochen, der auf sich allein gestellt war, als Truppen auf seinen Ort vorrückten. Er schaffte es irgendwann, nach Charkiw zu kommen und von dort weiter in den Westen der Ukraine, wo er seine Familie wiedersehen konnte. Trotz dieser Erfahrungen war er voller Tatendrang, eine Ausbildung zu machen. Kinder in diesem Alter sind sehr verletzlich, da sie auch mit dem Erwachsenwerden konfrontiert sind. Für manche ist psychologische Hilfe in dieser Phase und unter diesen Umständen besonders wichtig.
Spielt es dabei auch eine Rolle, dass 17-Jährige männliche Jugendliche eventuell in den Krieg ziehen müssen, sobald sie volljährig sind?
Die jungen Menschen, mit denen wir gesprochen haben, versuchen jeden Tag aufs Neue ihren Alltag zu meistern und sehnen sich nach Frieden. Die Sorge besteht, aber in den Gesprächen, die wir geführt haben, kam das nicht zur Sprache.
Wie können wir aus Deutschland den Kindern und Jugendlichen in der Ukraine helfen?
Die Bundesregierung ist einer der größten Unterstützer der UNICEF-Hilfe in der Ukraine. Auch die Solidarität der Menschen in Deutschland mit den ukrainischen Kindern ist sehr groß. Es ist wichtig, dass diese Unterstützung auch im kalten Winter anhält, weil zu befürchten ist, dass Russland die zivile Infrastruktur der Ukraine wieder verstärkt angreift. Eine Spende unterstützt nicht nur Bildungsangebote, sondern auch Winterkleidung, Medikamente und psychologische Unterstützung für Kinder und Jugendliche.
Zur Gesprächspartnerin
- Christine Kahmann ist Sprecherin von UNICEF in Deutschland. Vom 6. bis 11. November reiste sie in die Ukraine und insbesondere in die Region Charkiw und besuchte dort UNICEF-Projekte für ukrainische Kinder.
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.