- Das Problem der Korruption macht auch vor Zeiten des Krieges in der Ukraine keinen Halt. Zuletzt häuften sich Berichte über Korruptionsvorwürfe und -skandale in Regierungskreisen.
- Was bedeutet das für das kriegsgebeutelte Land? Sind westliche Hilfen sicher? Und wie versucht Russland das Thema Korruption für sich zu nutzen?
- Militärexperte Gustav Gressel erklärt, warum die Toleranz in der Bevölkerung jetzt noch massiver sinkt.
Es ist ein Thema, das mit dem russischen Überfall in den Hintergrund getreten ist, verschwunden ist es aber nicht: Korruption in der Ukraine. Nun gerät es angesichts von Korruptionsvorwürfen in den höchsten Regierungskreisen in Kiew wieder in den Fokus.
Konkret geht es um das ukrainische Verteidigungsministerium, das bislang von Olexij Resnikow geführt wird. Sein Ministerium sah sich dem Vorwurf ausgesetzt, Lebensmittel für die Soldaten zu deutlich überhöhten Preisen eingekauft zu haben. Eine Entlassungswelle hochrangiger Staatsbediensteter erfolgte bereits. Resnikow hatte die Vorwürfe zunächst abgestritten, kündigte dann aber doch eine "interne Überprüfung" im Verteidigungsministerium an.
Der Krieg schafft neue Möglichkeiten
Korruption ist seit Jahrzehnten ein großes Problem in der Ukraine. Zwar hat sich seit den Maidan-Protesten von 2013 schon viel in der Bekämpfung getan, doch der Krieg eröffnet auch neue Möglichkeiten für Politiker, sich die Taschen vollzumachen.
Russland versuchte in der Vergangenheit immer wieder, die Korruptionsbekämpfung zu untergraben – denn schwache Institutionen in Kiew kommen Moskau nur zu gelegen. Im europäischen Vergleich landet Ukraine – vor Russland – auf dem vorletzten Platz. Laut "Transparency International" hat die Ukraine aber weltweit betrachtet mit am meisten in der Korruptionsbekämpfung erreicht.
Image von Präsident Selenskyj leidet
Zu den ergriffenen Maßnahmen zählt zum Beispiel die Gründung des nationalen Antikorruptionsbüros, des Hohen Antikorruptionsgerichts und einer spezialisierten Anti-Korruptionsstaatsanwaltschaft.
Aus Sicht von Militärexperte Gustav Gressel war Präsident Selenskyj selbst bis zum Krieg allerdings nicht sehr fleißig bei der Bekämpfung der Korruption. "Wie viele andere postsowjetische Politiker hatte er mehr Vertrauen in persönliche Vertraute und Bekannte als in Institutionen", sagt Gressel. Dabei war Selenskyjs Kampfansage an die Korruption eigentlich einer der Gründe für seinen Wahlerfolg und den seiner Partei im Jahr 2019 gewesen.
Toleranz für Korruption weiter gesunken
Gute Ansätze zur Reform der Staatsanwaltschaft unter dem ehemaligen Generalstaatsanwalt Ruslan Riaboshapka seien aber unterbunden worden, erklärt Gressel. "Die Justizreform hat leider keine guten Resultate gebracht, weder unter Selenskyj noch unter Poroshenko, weil die Venedig-Kommission zu früh auf eine Selbstverwaltung der Justiz bestanden hatte, der Lustrations- und Überprüfungsprozess der Richter zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht abgeschlossen war", sagt der Experte. Das habe vielen der korrupten Richter den Job erhalten.
"Jetzt mit dem Krieg haben sich aber die politischen Gewichtungen verschoben. Es kämpfen und sterben die einfachen Leute, aus jeder Familie. Damit ist das Interesse an Politik und Verwaltung ein anderes: Jeder fühlt sich betroffen, weil jeder ein Opfer für diesen Staat gebracht hat", sagt Gressel. Die Toleranz für Korruption sei deshalb noch weiter gesunken.
"Stehlen, während das Land ausblutet"
Der in der Ukraine bekannte Journalist Mychajlo Tkatsch schrieb in einem offenen Brief an den Präsidenten folglich: "Es gibt immer noch Menschen und sogar ganze Gruppen, die glauben, dass sie stehlen können, während das Land ausblutet".
Gressel erklärt dazu: "Früher hat man sich halt gesagt: 'Ok, wenn ihr euch am Staat bedient, zahl ich halt keine Steuern mehr'. Dann bedient ihr euch halt am Geld anderer, mir kann es egal sein." Diese Einstellung habe sich schon mit der Dezentralisierungsreform zu ändern begonnen. Damals war plötzlich das Fehlen von lokalen Steuern direkt mit dem Ausfall öffentlicher Leistungen wie Schulen und Krankenhäuser verbunden.
"Mit dem Krieg ist das noch einmal viel persönlicher und direkter geworden", ist sich Gressel sicher. Damit sei der Druck auf die Institutionen, Korruption zu bekämpfen, enorm gestiegen.
"Leider sind wichtige Institutionen, die Gerichte, die Staatsanwaltschaft, immer noch nicht in dem Zustand, wie sie sein sollten. Deshalb erfolgt der Kampf gegen Korruption jetzt unter Rückgriff auf den Geheimdienst und sehr anlassbezogen", sagt er.
Rüstungsindustrie steht unter Leistungsdruck
Das sei zwar kein optimaler Prozess, aber es passiere immerhin etwas. Vor wenigen Wochen durchsuchten staatliche Ermittler das Haus des Oligarchen Ihor Kolomojskyj, einem der reichsten Männer der Ukraine. Ihm wird Unterschlagung von Erdölprodukten im Wert von umgerechnet 930 Millionen Euro zur Last gelegt. Ebenso durchsucht wurde das Büro einer Steuerbehörde in Kiew im Zusammenhang mit der Hinterziehung von Zöllen. Die Leitungsebene der Zollbehörde wurde wenig später entlassen.
"Im Vergleich zu früher ist die Korruption in der Verteidigungsbeschaffung aber enorm gesunken. Die staatliche Rüstungsindustrie war früher ein Fass ohne Boden, jetzt steht sie unter enormen Leistungsdruck", kommentiert Gressel. Ein bisschen nachgeholfen hätten die Russen, "so zynisch es klingen mag, indem sie die problematischsten Betriebe angegriffen und zerbombt haben. Jetzt wird mit neuem Personal und neuer Führung wieder aufgebaut, und der Neuanfang tut einigen Unternehmen gut".
Spielen die Skandale Russland in die Karten?
Die jetzige Korruption beziehe sich auf den Bereich der Nahrungsmittel- und Betriebsstoffbeschaffung, nicht auf die Waffen. Im Bereich der Waffen sei die Kontrollkette bereits sehr dicht, in den anderen Bereichen habe man allerdings zu wenig hingeschaut.
"Reznikow ist nicht persönlich darin verwickelt, aber er trägt natürlich die Gesamtverantwortung für sein Ressort", sagt Experte. Ob er selbst gehen muss, steht noch nicht fest. "Er ist einer der beliebtesten Politiker in der Ukraine", weiß Gressel.
Positiv wirken sich die Korruptionsskandale daher erst einmal nicht aus – und spielen zu Teilen auch Russland in die Karten. Russland nutzte Falschmeldungen zu Korruption in der Ukraine bereits in der Vergangenheit als Propagandamittel. So hielt sich der Vorwurf, die vom Westen an die Ukraine gelieferten Waffen würden auf dem Schwarzmarkt verkauft werden.
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Sind westliche Hilfen vor Korruption geschützt?
Gleichzeitig lebt in direkter Konsequenz auch hierzulande wieder die Debatte auf, ob westliche Hilfen vor Korruption geschützt sind. Fast 40 Prozent der Staatsausgaben waren im vergangenen Jahr einem Bericht des ukrainischen Finanzministeriums zufolge von finanziellen Hilfen gedeckt. Die Auszahlung von Renten oder Gehälter der Staatsbediensteten wäre sonst nicht möglich gewesen.
Bislang deutet nichts darauf hin, dass bei den Skandalen auch westliche Hilfsgelder veruntreut wurden. Die USA und die Weltbank haben allerdings auch Zugang zu den Haushaltsbüchern des ukrainischen Staates, wodurch sie die Verwendung der Hilfsgelder und den tatsächlichen Bedarf kontrollieren können.
Schon jetzt wirft das Thema also weitere Schatten voraus: Vertrauensmaßnahmen werden in Sachen Wiederaufbau notwendig sein, auch bei der finanziellen Unterstützung der EU und einem möglichen Beitritt wird das Thema weiterhin auf den Tisch kommen. Doch die Ukraine kann das Momentum auch nutzen – um Reformen mit aller Kraft glaubhaft anzustoßen.
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