Zu heiraten, die Kinder zu betreuen und den Haushalt zu regeln, galt lange Zeit in der Ukraine als das Lebensziel einer Frau. Auch im Krieg geistert dieses Rollenverständnis noch immer durch die Köpfe der Menschen. Doch etwas hat sich geändert – und das wird die ukrainische Gesellschaft nachhaltig beeinflussen.
Es gibt – überspitzt gesagt – diese zwei Vorstellungen davon, wie eine Frau zu sein hat: eine Hausfrau, die die Familie zusammenhält. Die pflegt, die putzt, die kocht, gebärt. Eine Frau, die die Bedürfnisse anderer über ihre eigenen stellt. Die Selbstlose, Traditionelle. Dann gibt es die andere Frau. Die Karriere will. Die keine Kinder hat, sich frei macht von gesellschaftlichen Zwängen. Die unabhängig ist, progressiv. Erstere galt in der Ukraine lange als gesetzt. Doch diese Geschlechterrollen verlieren mittlerweile immer mehr an Wert. Gerade jetzt – im Krieg.
Yulija Sporysh sitzt in ihrem Büro. Hinter ihr eine Bücherwand, vor ihr der Laptop. Sie hat nur wenig Zeit, ist viel auf Reisen, spricht vor Menschen über ihre Arbeit. Die Soziologin gründete 2019 den feministischen ukrainischen Verein "Girls". Sporysh setzt sich dafür ein, dass Frauen und Mädchen in der Ukraine gleiche Chancen im Beruf haben, gleiche Bezahlung, gleiche Rechte. Dass staatliche Angebote es den Frauen überhaupt ermöglichen, Berufen nachzugehen – Stichwort Kinderbetreuung. In diesem Jahr hat sie den Anne-Klein-Frauenpreis der Grünen-nahen Heinrich-Böll-Stiftung gewonnen. Jetzt spricht Sporysh meist nur über den Krieg. Darüber, wie er die Frauen beeinflusst. Darüber, wie Frauen ihn beeinflussen.
Russisches Frauenbild prägt Ukraine noch heute
Denn der Krieg in der Ukraine hat zutage gebracht, was lange in der Weltsicht im Verborgenen blieb. Diese sowjetische Lebensweise, die Frauen einredet, stark sein zu müssen, aber ihrer Rolle als Frau und Mutter zu entsprechen. Doch wie soll das gehen, wenn es kaum noch Männer gibt? Leere Chefetagen, weil die Männer an der Front im Graben sitzen? Ein kaltes Haus, weil niemand das Holz hackt? Wer arbeitet in den Minen – in den vielen Minen, die vor allem die Wirtschaft im Donbass so sehr prägen?
Auch Sporysh sagt: "Es gibt zwei verschiedene Perspektiven für Frauen in der Ukraine." Da gibt es die traditionellen Stereotype, dass Frauen die Familien, die physische Sicherheit ihrer Kinder an erste Stelle zu setzen haben. "Und viele Frauen haben das getan", sagt Sporysh im Gespräch mit unserer Redaktion. "Viele haben ihre Karrieren und Unternehmen aufgegeben, sind wegen des Krieges mit den Kindern und älteren Verwandten in andere Regionen gezogen." Eine große Sache sei das in der Ukraine, sagt sie. Unbezahlte Pflegejobs, Vollzeitjob: Mutter. Und zwar nicht bloß in Bezug auf ihre engsten Verwandten. Da gibt es ja noch die Großmutter des Partners, den Vater des Ehemanns, die Pflege brauchen. Doppelbelastung.
Gleichzeitig, sagt Sporysh, steigen derzeit viele Frauen in Führungspositionen auf. Die Rolle der Frau wird, bedingt durch den Krieg, zwangsweise überdacht. Es gibt zwei kontroverse Bewegungen. Die Zahl der Frauen, die Geld verdienen und unabhängig von internationaler Unterstützung oder der Regierung sein wollen – sie wächst. Gleichzeitig haben viele im Land noch immer das traditionelle Bild einer Frau im Kopf.
450 verbotene Berufe für Frauen
Noch im Jahr 2021 unterschieden fast 60 Prozent der Ukrainerinnen und Ukrainer zwischen "weiblichen" und "männlichen" Berufen. 21 Prozent der Eltern empfahlen ihren Kindern, einen Beruf nach geschlechtsspezifischen Merkmalen zu wählen. 2018 waren fast 70 Prozent der ukrainischen Männer der Meinung, Frauen hätten sich in erster Linie um die Familie zu kümmern und sollten kochen.
Bis zum Jahr 2018 war es Frauen untersagt, bestimmten Berufen nachzugehen. 450 Berufe, die als gefährlich oder körperlich schwer galten. Frauen durften Tramfahrerin sein, aber Züge nicht steuern. Unter Tage durften Frauen nicht arbeiten, außer es gab eine Sondergenehmigung. Beim Militär kämpfen war ihnen verboten – doch inoffiziell waren sie dann doch seit 2014 im Donbass an der Front.
Regeln und Gesetze, Sichtweisen und Werte, die noch aus der Sowjetzeit stammen. Aus einer Zeit, in der die Regierung versuchte, die Geburtenrate staatlich zu beeinflussen, nachdem diese nach dem Zweiten Weltkrieg rapide gesunken war. Was dem Uterus hätte schaden können, war den Frauen untersagt, vor Armut schützte das System die Frauen hingegen nie. Und ein jahrzehntelang staatlich vorgelebtes Rollenverständnis ändert man so schnell nicht. Das sagt auch die Soziologin Sporysh. "Das traditionelle Rollenverständnis ist in der Ukraine noch immer vorhanden", erklärt sie. "Aber gerade jetzt im Krieg ist es eine Frage der Perspektive." Denn gleichzeitig sind 60.000 Frauen bei der ukrainischen Armee, bedienen Drohnen, sind Scharfschützinnen, Sanitäterinnen, sitzen in den Gräben.
Doch dann fangen die Diskussionen an. Der gesellschaftliche Druck. Wer kümmert sich um die Kinder? Warum tust du das? Du musst bei deiner Familie sein. Krieg ist Männersache. "Ja", sagt Sporysh, "dieses Stigma ist riesig. Aber die Zahl der Frauen, die die Souveränität des Landes verteidigen, steigt."
"Die einzige Möglichkeit, wenn wir überleben wollen"
Zudem gebe es kaum andere Möglichkeiten. Männer fehlen an der Front, fehlen im gesellschaftlichen, im zivilen Leben. Frauen füllen diese Lücken. Mehr als je zuvor. Und die Ukraine als Staat macht Fortschritte in Bezug auf die Gleichberechtigung. Schafft alte Gesetze ab, stellt eine soziale Infrastruktur bereit. Im Sommer 2022 hatte es die Werchowna Rada, das ukrainische Parlament, nach zehn Jahren endlich geschafft, die Istanbul-Konvention zum Schutz von Frauen vor Gewalt zu ratifizieren. Doch die Gesellschaft kommt so schnell nicht hinterher.
"Die Normen innerhalb einer Gesellschaft ändern sich nur sehr langsam", sagt Sporysh. "Das ist ein nie endender Prozess." Die Ukraine werde nie wieder das Land sein, das es einmal war. Traditionell männlich geprägte Unternehmen suchen schon jetzt explizit nach weiblichen Arbeitskräften, eröffnen private Kindergärten, zeigen Initiative, um Positionen für Frauen attraktiv zu machen. "Es ist die einzige Möglichkeit, wenn wir überleben wollen", sagt Sporysh.
Und auch nach dem Krieg werde sich die neu gewonnene Position der Frauen in der Gesellschaft halten – davon ist Sporysh überzeugt. Denn erst einmal gebe es ein Land von Veteranen. Ein Land, geprägt von geschundenen, traumatisierten, verletzten Männern, die viel Unterstützung und Zeit brauchen, um zu rehabilitieren und sich wieder in die Gesellschaft zu integrieren. "Niemand wird zurückkehren, um nur noch Mutter zu sein", sagt Sporysh. Die neue Generation Frau müsse allerdings laut und deutlich zeigen, was sie tut, dürfe nicht schüchtern sein und müsse zeigen, dass man ihren Einfluss nicht unterschätzen dürfe.
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Territoriale Unterschiede: An der Front geht es ums Überleben
Doch da gibt es noch die territorialen Unterschiede. Frontnah oder auf sicherem Grund und Boden, ländlich oder städtisch geprägtes Zuhause. Unterschiede, die, wie Sporysh sagt, durch die Lebensqualität der Menschen bestimmt werden. "An der Front geht es ums Überleben – die Hauptaufgabe der Frauen besteht darin, das alles zu überstehen." In den sicheren Regionen des Landes sei es ihre Aufgabe, das Land zu entwickeln, wieder aufzubauen, wiederherzustellen.
Auch geschlechterspezifische Gewalt spielt eine Rolle in der Entwicklung der Geschlechterrollen. Es geht dabei nicht nur um sexuelle Gewalt, aber auch. "Es gibt viele Arten von Gewalt, die durch den Krieg gefördert werden", sagt die Soziologin. "Zwar wissen wir jetzt, dass das Niveau der sexuellen Gewalt hoch ist, gleichzeitig ist aber auch das Ausmaß anderer Arten von Gewalt gegen Frauen gestiegen." Kriegsbedingter Stress wirke sich auf die Psyche der Menschen aus, die von der Front zurückkehren. "Und wenn der Soldat oder Veteran nicht weiß, wie er mit diesem Stress umgehen soll, ist die Familie betroffen." Ehefrauen, Kinder, Mütter.
Um psychischer und physischer Gewalt vorzubeugen, brauche es eine große Informationskampagne, meint Sporysh. "Damit Frauen wissen, wie sie sich vorbereiten können, dass sie verstehen, welche staatlichen Maßnahmen es gibt, welche Art von Unterstützung." Und vor allem, sagt sie, muss es diese Unterstützung dann auch geben. Ein riesiges Stück Arbeit sei das.
Das Gleiche gilt für die feministische und geschlechtersensible Bewegung. "Wir müssen Geld in den Kinderschutz, in den sozialen Dienst für Mütter, in Schutzräume in Schulen und Kindergärten investieren." Noch fehlt es an Ressourcen, sagt sie. Weil der Fokus auf die Veteranen gelegt werde. Doch Sporysh findet, nur so könne die Gleichstellung der Geschlechter erreicht, könnten Frauen für die Wirtschaft und die Politik gewonnen werden – und damit das Land neu mitgestalten.
Über die Gesprächspartnerin:
- Yuliya Sporysh ist promovierte Soziologin, Feministin und Mutter von drei Kindern. Sie studierte Soziologie an der Nationalen Taras-Shevchenko-Universität in Kiew und promovierte dort über die Lebensstile der Mittelschicht in Großstädten. Zehn Jahre lang leitete sie ein ukrainisches Fintech-Unternehmen, bis sie sich 2019 dazu entschloss, diese Karriere aufzugeben und die feministische NGO "Girls" zu gründen.
Verwendete Quellen:
- Gespräch mit Soziologin Yulija Sporysh
- ukraine.unfpa.org: Дівчата змінюють світ: історії, що руйнують стереотипи
- bpb.de: Grafiken zum Text: Die Meinung der Ukrainer*innen zu Geschlechterrollen
- bpb.de: Analyse: 8. März, Feminismus und Krieg in der Ukraine: Neue Herausforderungen, neue Möglichkeiten
- boell.de: Anne-Klein-Frauenpreis 2024 an Yuliya Sporysh
- ukraineverstehen: Die Geschlechterstereotype auf dem ukrainischen Arbeitsmarkt ändern sich, aber nur langsam
- divchata.org: General information
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