- Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz hat bis heute 200 Tonnen Hilfsgüter in die Ukraine transportiert und verhandelt mit den Konfliktparteien über humanitäre Korridore.
- Trotzdem verzichten Mitarbeiter seit Wochen auf das offizielle Emblem auf ihrer Uniform – aus Sorge vor Angriffen.
- Stellte Russland einer der wichtigsten humanitären Organisationen der Welt eine Falle?
Auf dem Bild, das dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) kurz darauf um die Ohren fliegen wird, sind zwei Männer zu sehen, die einander freundlich anlächeln. Der Rechte von beiden heißt Sergei Lawrow, ist Außenminister Russlands und führt mit seinem Land gerade einen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Der Linke heißt Peter Maurer, ist Schweizer Diplomat und leitet seit zehn Jahren das IKRK, eine der ältesten und renommiertesten humanitären Hilfsorganisationen der Welt. Im Hintergrund ist die Fahne des Roten Kreuzes jener von Russland optisch gleichgesetzt, beide sind auf Masten drapiert, so wie man es üblicherweise von Gipfeltreffen zweier befreundeter Staaten kennt. Dass es sich hierbei nicht um den G7-Gipfel handelt, sondern um die Zusammenkunft zweier Männer, von denen einer im Verdacht steht, schwere Kriegsverbrechen zu unterstützen, ahnt man beim Betrachten des Fotos nicht.
Maurer hat in jener Woche Ende März, in der das Bild entsteht, einen Verhandlungsmarathon hinter sich. In Kiew hat sich der 65-Jährige mit einer Reihe hochrangiger Regierungsvertreter der Ukraine getroffen, darunter mit Premierminister Denys Schmyhal, Verteidigungsminister Oleksij Resnikow und dem Bürgermeister von Kiew, Vitali Klitschko, um mit ihnen unter anderem über die Errichtung humanitärer Korridore zu sprechen. Im Anschluss reist Maurer nach Moskau, wo er auf Lawrow und eine Reihe weiterer russischer Minister trifft. Es ist das, was das neutrale IKRK qua Statut in fast allen Konflikten rund um den Erdball tut: Mit den beteiligten Konfliktparteien sprechen, Lösungen ausloten, über humanitäre Korridore verhandeln, Hilfslieferungen organisieren – immer und immer wieder.
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Lawrow stellt eine Falle, der IKRK-Chef tappt hinein
Ob der Diplomat an diesem Tag unaufmerksam ist, ahnungslos oder einfach nur pragmatisch, ist unklar. Offensichtlich ist nur, dass Lawrow dem IKRK-Chef bei dem gemeinsamen Treffen mit der gesamten Inszenierung eine Falle stellt. Und dieser wie ein diplomatischer Anfänger hineintappt. In einer anschließenden Pressekonferenz parliert Lawrow jedenfalls minutenlang über die guten Beziehungen zum IKRK. Kurz darauf entsteht das freundschaftlich wirkende Foto, das Russland anschließend über Regierungsaccounts fleißig teilt. In einem Krieg, der auch über Bilder geführt wird, ist das Treffen ein kleiner Sieg für Russland.
In der Ukraine ist der Ärger auf das IKRK auch deshalb groß, weil Maurer und seine Kollegen dort schon länger keinen besonders guten Leumund mehr besitzen. Das IKRK, so heißt es, gehe zu sanft mit Moskau um, die angebliche Neutralität sei verklausulierte Feigheit, die Ergebnisse für die Zivilbevölkerung seien trotz des Zugehens auf Moskau viel zu mager. Dazu kommt: In der Ukraine verbreitet sich zu diesem Zeitpunkt das Gerücht, das IKRK wolle im russischen Rostow am Don, unweit der ukrainischen Grenze, mit russischer Genehmigung eine Art Lager errichten, um dort Vertriebene zu versorgen. Damit wolle Russland seine sogenannten "humanitären Korridore" auf das eigene Territorium legitimieren, obwohl ukrainische Bürger illegal vom Feind verschleppt würden, klagte etwa die ukrainische Ministerin für die Wiedereingliederung der besetzten Gebiete, Iryna Wereschtschuk. Ein ungeheurer Vorwurf. Ein aus Mariupol stammender Abgeordneter rief Maurer auf Facebook sogar zum Rücktritt auf, zudem solle das IKRK mindestens bis zum Kriegsende aus der Ukraine verbannt werden. Das Rote Kreuz wies alle Anschuldigungen mit einem ungewöhnlich scharfen Communiqué zurück.
IKRK ist auf russische Mithilfe angewiesen
Die 1863 in Genf gegründete Organisation steckt in einem gefährlichen Dilemma – in der Wirtschaft würde man von wohl einer 'Strategiefalle' sprechen. Ohne Zugang zu Völkerrechtsbrechern, Autokraten und Diktatoren sind die Versorgung von Opfern oder der Besuch von Kriegsgefangenen kaum darstellbar, das gilt auch für diesen Krieg. Die Organisation ist deshalb auf die Kompromissbereitschaft der Russen angewiesen, sofern sie überhaupt etwas erreichen will. Wenn die Konfliktparteien nicht wollen und zum Beispiel keine Feuerpause zulassen, gibt es auch keine humanitären Korridore, in denen die Helfer Notunterkünfte und Blutspendezentren errichten oder Medikamente bereitstellen können. Das zeigt gerade erst das Beispiel Mariupol, wo Russland die verbliebene Bevölkerung offenbar verhungern lassen will.
Kritiker, wie der ukrainische Politikwissenschaftler Roman Rukomeda, kritisieren, dass das IKRK aktuell zu pragmatisch, wenn nicht sogar naiv vorgehe. Anstatt hart mit Moskau zu verhandeln, nutze Russland die Organisation als Ressource politischer Legitimität. "Meiner Meinung nach gibt es in der aktuellen russischen Aggression keinen Platz für Pragmatismus", sagt Rukomeda im Gespräch mit der Redaktion. "Entweder das IKRK macht seine Arbeit gemäß seiner Satzung, rettet Menschenleben und tut alles, um den Opfern der Aggression zu helfen. Oder man fährt fort, politische Spielchen mit russischen Terroristen zu spielen."
Mit 'Spielchen' bezieht sich Rukomeda insbesondere auf den Vorwurf, das IKRK beteilige sich an Verschleppungen von Ukrainern aus Mariupol nach Russland. "Die Diskussion über die Eröffnung eines Büros im russischen Rostow hilft den russischen Terroristen bei der Entführung von Ukrainern aus den von Russland besetzten Gebieten", so Rukomeda. Außerdem übernehme das IKRK zu wenige Anstrengungen, um Zugang zu ukrainischen Kriegsgefangenen in Russland zu erhalten, während man von der Ukraine vollen Zugang zu russischen Kriegsgefangenen in der Ukraine habe. Rukomedas Kritik ist in diesen Tagen innerhalb der ukrainischen Bevölkerung weit verbreitet und es schwingt der Vorwurf der Parteilichkeit mit.
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Parteilichkeits-Vorwürfe gibt es seit Jahrzehnten
Gleichwohl hört man diesen Vorwurf in Genf, wo das IKRK sitzt, nicht zum ersten Mal. Schon in den beiden Weltkriegen hatte sich das IKRK dafür rechtfertigen müssen, mit allen Seiten zu sprechen, darunter auch mit offenkundigen Kriegsverbrechern. Damals lautete der Vorwurf sogar, IKRK-Vertreter transportierten in ihren Fahrzeugen das Vernichtungsgas Zyklon B für die Nazis – was später widerlegt wurde. "Unsere Neutralität wird oft missverstanden", sagt Florian Seriex vom IKRK zur Redaktion. "Der Aufbau und die Aufrechterhaltung eines Dialogs mit den Konfliktparteien ist von entscheidender Bedeutung, um Hilfsgüter über die Grenzen hinweg zu transportieren, die sichere Passage von Zivilisten zu erleichtern, Zugang zu allen betroffenen Menschen zu erhalten und als neutraler Vermittler in humanitären Fragen aufzutreten."
Die Vorwürfe seien Teil einer Desinformationskampagne und stellten eine ernsthafte Gefahr für die Teams vor Ort dar: "Desinformationen und falsche Informationen, die absichtlich oder versehentlich über das IKRK verbreitet werden, können unseren Mitarbeitern großen Schaden zufügen und schnell zu einem physischen Sicherheitsrisiko vor Ort werden." Wie die 'NZZ' berichtete, ziehen es manche Mitarbeiter mittlerweile vor, ihre offiziellen Embleme aus Angst vor Angriffen abzulegen. Andernorts soll es Angriffe auf Büros und Transportfahrzeuge gegeben haben. Einer westlichen Rotkreuz-Organisation sei der Mietvertrag für eine Wohnung verweigert worden.
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Russland nutzt NGOs gezielt für Propaganda
Der ehemalige UN-Berater Carsten Wieland hat sich im Rahmen seiner Recherchen für das Buch 'Syrien und die Neutralitätsfalle' intensiv mit dem Vorgehen Russlands im syrischen Bürgerkrieg beschäftigt. Er sieht das Verhalten das IKRK zwar kritisch, die Situation aber auch als Ergebnis der russischen Kriegsführung. "Die Erschwerung der unparteilichen und neutralen Arbeit von humanitären Organisationen und die Manipulation humanitärer Hilfe gehören zum Drehbuch des Konflikts in Syrien, wo Russland maßgeblich beteiligt ist", sagt er im Gespräch mit der Redaktion. "Diese Vorgehensweisen können wir auch in der Ukraine beobachten. Dazu gehört der Versuch, die humanitäre Hilfe dorthin zu lenken, wohin es die stärkere Kriegspartei möchte, zugunsten 'loyaler' Bevölkerungsteile, während andere Menschen wie im Mittelalter gezielt ausgehungert werden." Es komme nun darauf an, wie hart humanitäre Organisationen mit solchen Regimen verhandeln oder ob sie den leichteren Weg gingen und ihre Hilfsgüter dorthin lieferten, wo es einfacher sei, durchzukommen. "Das sind sehr schwere Entscheidungen und oft ein Dilemma", so Wieland.
Wieland kann nachvollziehen, dass das IKRK auch mit Kriegsverbrechern verhandelt. "Aber die recht kumpelhaft aussehende Begrüßung zwischen Maurer und Lawrow war im gezielten Interesse Lawrows und gehört in dieser Situation sicher nicht zur diplomatischen Glanzleistung des IKRK, während andere Außenminister wie Annalena Baerbock bereits vor dem Krieg Lawrow mit ernster Miene begegnet sind." Bei den Recherchen zu seinem Buch habe er außerdem mit Diplomaten gesprochen, die sich in den internationalen Gremien und Verhandlungen generell eine konsequentere Haltung des IKRK und anderen humanitären Organisationen gegenüber Verletzungen des humanitären Völkerrechts und der Menschenrechte wünschen, auch und besonders in Friedenszeiten. "Unbequeme Themen werden da oft ausgespart."
Peter Maurer war sein Foto mit Lawrow übrigens wohl so unangenehm, dass er es anders als die Russen nicht über die sozialen Medien verschickte. Sein Twitter-Account verbreitete am 17. März hingegen ein Foto mit einem anderen Mann: Dem ukrainischen Premierminister Denys Schmyhal.
Verwendete Quellen:
- ICRC – President completes visit to Russia to speak about humanitarian issues in armed conflict
- Cepa.org – Supping With the Kremlin Devil: the Red Cross Dilemma
- Twitter-Account von Peter Maurer, Präsident des IKRK (abgerufen am 24.04.2022)
- Pravda.com – Public Appeal to the International Committee of the Red Cross (ICRC)
- NZZ-Magazin – Misstrauen gegen das IKRK – ‚Die Leute fragen: Was macht das Rote Kreuz in Russland?‘
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