Die Theologin Margot Käßmann ist gegen immer neue Waffenlieferungen an die Ukraine. Aber lässt sich der Angriffskrieg Russlands so aufhalten? Ein Gespräch über Pazifismus, russischen Nationalismus und die unerschütterliche Hoffnung auf ein Ende des Kriegs.
Unter dem Titel "Stoppt das Töten in der Ukraine" ruft ein Bündnis aus gesellschaftlichen Gruppen im September zu Kundgebungen in ganz Deutschland auf. Es fordert einen Stopp des russischen Angriffskriegs, aber auch ein Ende von Waffenlieferungen an die Ukraine.
Die Friedensbewegung in Deutschland ist noch da – aber sie muss sich erklären. Ist es nicht naiv, Verhandlungen mit einem russischen Präsidenten zu fordern, der offenkundig nicht verhandeln will?
Auch die Theologin Margot Käßmann wird am Sonntag in Stuttgart an einer Kundgebung des Bündnisses teilnehmen. Im Interview mit unserer Redaktion verteidigt die Autorin und ehemalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche ihre Haltung: Immer neue Waffen könnten nicht die Antwort sein, sagt die 65-Jährige.
Frau Käßmann, würden Sie sich als Pazifistin bezeichnen?
Margot Käßmann: Ja.
Hat man es als Pazifistin in Deutschland schwerer, seit der Krieg in der Ukraine tobt?
Wenn wir es militärisch ausdrücken, stehen Pazifistinnen und Pazifisten ziemlich unter Beschuss. Sie werden auf eine Weise diffamiert, wie ich es aus früheren Auseinandersetzungen etwa um den Irakkrieg oder Afghanistan nicht kenne. Wir werden als Wohlstandsverwöhnte, als Sofa-Pazifisten und Lumpen-Pazifisten bezeichnet – oder wie jetzt von
Was macht das mit Ihnen?
Ich finde diese Aggression gegenüber pazifistischen Stimmen enorm und nicht nachvollziehbar. In einer Demokratie muss es unterschiedliche Stimmen geben. Ich plädiere dafür, dass es Lösungen ohne Waffen gibt, weil ständige Aufrüstung die Welt nicht friedlicher macht.
Ohne militärische Unterstützung aus dem Westen wäre die Ukraine aber möglicherweise von Russland überrannt worden. Dann sähen jetzt weite Teile der Ukraine aus wie Mariupol.
Ich glaube nicht, dass es überall zu diesem Ausmaß der Zerstörung gekommen wäre.
Aber das Ziel Russlands ist es, die Ukraine militärisch einzunehmen – wenn nicht gar das Land zu zerstören.
Es ist doch gar keine Frage:
Die Lehre aus der deutschen Geschichte kann doch aber auch nicht sein, wegzuschauen, wenn ein anderes europäisches Land angegriffen wird.
Gegen Waffenlieferungen zu sein, bedeutet nicht, dass man wegschaut. Es gibt auch andere Formen, in einem Konflikt Position zu beziehen. Wir brauchen nicht nur Militärstrategen, sondern auch Diplomatie-Strategen. Da gibt es in Deutschland enorme Expertise, von der ist aber wenig zu hören und zu sehen. Wir können es doch nicht Staaten wie Saudi-Arabien, China oder der Türkei überlassen, Friedensinitiativen zu ergreifen. Wir haben jetzt 22 Milliarden Euro für militärische Unterstützung in die Ukraine transferiert – und da sind noch nicht die Gelder dabei, die wir über EU-Beschlüsse dazugeben. Wie weit soll die Spirale noch gehen?
Immerhin hat die Ukraine dem russischen Angriff standgehalten – auch dank der Unterstützung mit Waffen aus dem Westen.
Aber standgehalten um welchen Preis? Um den Preis der Zerstörung des Landes.
Margot Käßmann: "Es dürfen nicht noch mehr Menschen sterben"
Was lässt Sie denn vermuten, dass Putin zu Verhandlungen bereit wäre? Er hat dazu keinerlei Bereitschaft erkennen lassen.
Der ukrainische Präsident Selenskyj hat auch gesagt, man könne nicht verhandeln. Wir können nicht sagen: Es will sowieso niemand verhandeln, also schießen wir weiter. Ich bin überzeugt, dass es mit großem diplomatischem Druck aller Seiten möglich ist, einen Waffenstillstand zu erreichen. Ich war einmal in Nord- und Südkorea, auf beiden Seiten der Grenze. Da sieht man heute noch die Pavillons, in denen verhandelt wurde. Bis heute gibt es dort keinen Friedensvertrag, aber zumindest einen Waffenstillstand. Das muss doch auch jetzt das Ziel von allen sein, damit nicht weiterhin jeden Tag in der Ukraine Menschen sterben.
In den ersten zwei Septemberwochen finden in Deutschland Kundgebungen unter dem Motto "Stoppt das Töten in der Ukraine" statt. Auch Sie werden daran teilnehmen. An wen richten Sie diese Forderung?
An alle. An die Politik auf beiden Seiten. Es dürfen nicht noch mehr Menschen sterben.
Also richten Sie diese Forderung auch an die russische Seite.
Natürlich. Wie gesagt: Putin ist der Aggressor. Wir müssen auch darüber nachdenken, wie wir die russische Zivilgesellschaft stärken. Es gibt dort weiterhin Widerstand gegen den Krieg. Es gibt zum Beispiel die Soldatenmütter oder junge Menschen, die auf einem Rockkonzert skandieren: Scheiß Krieg, scheiß Krieg!
Trotzdem hat der Nationalismus in den vergangenen Jahrzehnten große Teile der Bevölkerung ergriffen. Sie waren mehrmals in Russland. Wie erklären Sie sich das?
Ich war das erste Mal in den 80er Jahren in Russland, damals fand ich es dort sehr bedrückend. In den 90er Jahren und 2001, 2002 war ich dann begeistert. Das Land schien richtig aufzublühen, war bunt und hell. Leider hat ein Gefühl des Gedemütigtseins dazu geführt, dass sich der Nationalismus durchgesetzt hat. Das gilt auch für die russisch-orthodoxe Kirche. Eine Zeit lang konnte man mit denen reden. Ich habe aber 2002 den Ökumenischen Rat der Kirchen verlassen, weil ich mich nicht mehr von den russisch-orthodoxen Patriarchen als westlich-dekadent diffamieren lassen wollte.
Wie sehr schmerzt es Sie, wenn Sie jetzt wegen Ihrer Friedensappelle als Russland-Versteherin dargestellt werden?
Das ist im Grunde genommen ein Witz der Geschichte. Über 20 Jahre habe ich mit kirchlichen Vertretern aus Russland gerungen. Die Russisch-orthodoxe Kirche hat die Beziehung zur Evangelischen Kirche Deutschlands sogar abgebrochen, als ich Ratsvorsitzende wurde. Die haben gesagt: Mit einer solchen Frau an der Spitze ist das keine Kirche mehr, sondern dem westlichen Zeitgeist angepasst.
Margot Käßmann: "Kriege haben in der Geschichte immer geendet"
Melden sich die Kirchen in der Frage des Ukraine-Krieges heute ausreichend zu Wort?
Innerhalb der Kirchen sind die Meinungen ähnlich kontrovers wie in der Gesellschaft insgesamt. Es gibt in der Lutherischen Kirche immer schon eine Mehrheit, die den Dienst an der Waffe und militärische Einsätze für einen gerechten Frieden befürwortet. Es gab aber auch immer, schon in Jesu Zeiten, die pazifistische Stimme. Sie sagt: Militärisches Handeln ist mit dem christlichen Glauben nicht vereinbar – und das ist auch in dieser Situation so. Natürlich würde ich mir wünschen, dass die Kirchen der Welt glasklar für den Frieden eintreten.
Was meinen Sie damit?
Der Moskauer Patriarch Kyrill muss aufhören, Wladimir Putin in den Ostergottesdienst einzuladen oder Waffen zu segnen. Das halte ich für Blasphemie. Wir sehen aber auch in der Ukraine heftige Auseinandersetzungen zwischen der russisch-orthodoxen Kirche und der ukrainischen nationalen Kirche. Diese Auseinandersetzungen widersprechen für mich dem christlichen Geist des Friedens. Das Christentum hat eigentlich die Chance, über Nationalismus hinaus zu denken. Wenn wir Christinnen und Christen als Gemeinschaft von Brüdern und Schwestern verstehen, spielt die Nation keine Rolle.
Wenn Christinnen und Christen eine große Gemeinschaft sind – dann müssen sie doch auch den Menschen in der Ukraine helfen, sich gegen einen Angriffskrieg zu verteidigen.
Natürlich – aber nicht nur militärisch. Wir haben auch eine Million Flüchtlinge in Deutschland aufgenommen, wir leisten enorme zivile Hilfe. Aber im öffentlichen Diskurs wird der Begriff Hilfe immer nur auf Waffen reduziert.
Wie groß ist aus Ihrer Sicht die Gefahr, dass die Menschen sich in Deutschland an diesen Krieg gewöhnen?
Ich befürchte, das ist schon der Fall. In den ersten Kriegswochen haben alle ununterbrochen über die Ukraine und den Kriegsverlauf gesprochen. Inzwischen gibt es leider diesen Gewöhnungsfaktor. Ich finde, die Empörung müsste viel größer sein, dass da täglich Menschen zerfetzt werden.
Haben Sie noch die Hoffnung, dass dieser Krieg bald endet?
Ich bin jetzt 65. Mir gibt Hoffnung, dass die Kriege in der Geschichte doch immer geendet haben. Und auch dieser Krieg wird enden, das ist klar. Für mich ist nur die Frage: Mit wie vielen weiteren Opfern? Als Christin habe ich die Hoffnung, dass der Mensch mit dem ausgestattet ist, was ich Gottebenbildlichkeit nennen würde: mit dem Willen und inneren Drang, Frieden zu schaffen. Am Ende will jeder Mensch in Frieden leben, seine Kinder in Frieden aufwachsen sehen. Diese Hoffnung muss sich durchsetzen – auch gegen Diktatoren wie Putin.
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