Die ukrainische Industriestadt Awdijiwka liegt in Trümmern. Ukrainische Soldaten haben sich zurückgezogen, die russische Armee hat die Stadt eingenommen. Einen solchen Erfolg verzeichnete Moskau seit der Eroberung von Bachmut nicht mehr. Was der Verlust der Stadt für die Ukraine bedeutet und warum in den nächsten Monaten mit weiteren schlechten Nachrichten zu rechnen ist.
Für die Ukraine ist es eine bittere Niederlage: Die frühere Industriestadt Awdijiwka ist von der russischen Armee erobert worden. Die Kämpfe hatten sich bereits im vergangenen September intensiviert, nun ordnete die ukrainische Militärführung den Rückzug an. Laut Medienberichten sollen russische Einheiten in die Stadt eingerückt sein, außerdem werden neue Gefechte aus der Umgebung und ein Vorrücken der russischen Truppen im Westen gemeldet.
Die Kämpfe hinterlassen in Awdijiwka, das nur wenige Kilometer von Donezk entfernt liegt, ein Bild der Verwüstung. Wo sich früher Wohnkomplexe und Geschäftshäuser befanden, bleiben heute nur noch Schutt und Asche. Man werde Awdijiwka zurückerobern, kündigte Präsident Selenskyj derweil auf der Münchener Sicherheitskonferenz an.
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Einnahme von Awdijiwka ist ein Erfolg für Moskau
Moskau verbucht mit der Einnahme von Awdijiwka einen Erfolg: Und das nicht nur, weil sich in der Stadt eine der größten Kokerei-Anlagen Europas befand. Erstmals seit Mai 2023 haben die russischen Streitkräfte eine ukrainische Stadt eingenommen.
Aus Sicht von Militärexperte Gustav Gressel hat der Verlust für die Ukraine militärisch keine große Bedeutung, offenbart aber die derzeitige Schwäche der Ukraine. "Awdijiwka hätte eine Bedeutung gehabt, wenn die Ukraine militärisch stärker wäre, weil man von dort aus in einer überlegenen Situation offensiv in Richtung Donezk-Stadt hätte ansetzen können", erklärt er.
Von so einer Stärke sei die Ukraine aber "mehrere Jahre entfernt". Die 2014 von Russland besetzte Gebietshauptstadt ist mit dem Fall von Awdijiwka also mehr aus der Reichweite gerückt.
Militärisch sei Awdijiwka aus Sicht der Ukraine nur schwer zu schützen gewesen, sagt Gressel. "Die Position ist enorm exponiert", sagt er. "Die Russen haben aus relativ sicheren Stellungen auf Awdijiwka runtergeschossen. Es ist sehr schwer, die Stadt gegen Luftbedrohung zu schützen", sagt Gressel. Das hänge unter anderem mit der Lage der Drohnen-Startplätze zusammen.
Durch die schwer zu schützende Lage hätte die Ukrainer starke Verluste durch russische Gleitbomben erlitten. "Hier konnten die Russen leichter angreifen als an anderen Frontabschnitten", analysiert der Experte.
Politische Gründe sprachen gegen ukrainischen Rückzug
Awdijiwka sei für die Ukrainer von operativem Wert gewesen, als die Russen es frontal angegriffen hätten. "Dort gab es gut ausgebaute, sehr starke Verteidigungsstellungen", so Gressel. Noch von Oktober bis Dezember seien die russischen Verluste um ein Vielfaches höher gewesen als die ukrainischen. "Doch dann Mitte Januar ist russische Infanterie in die Stadt eingesickert – über Kanalisationen, über Hinterhofwege, durch Überraschungsangriffe und hat sich in der Stadt breitgemacht", sagt Gressel.
Damit seien sie in die Nähe der ukrainischen Nachschubwege gekommen und hätten im Ortskampf die Verlustzahlen auf der ukrainischen Seite in die Höhe getrieben. Der damalige Armeechef Saluschnyj habe zu diesem Zeitpunkt bereits gefordert, sich zurückzuziehen. Doch die politischen Gründe hätten dagegengesprochen.
"Man hat gefürchtet, die Bilder würden durch die russische Propaganda ausgeschlachtet und die Unterstützung des Westens würde zurückgehen", erklärt der Experte. Im Zuge der Munitionsdebatte in den USA habe Selenskyj nun aber sagen können: "Diese Bilder sind das Resultat eurer Zögerlichkeit." Dadurch habe die Ukraine das politische Narrativ glätten können.
Der neue Armeechef Syrsky habe außerdem einen besseren Draht in die Präsidentialadministration und habe durchgesetzt, Awdijiwka aufzugeben. "Militärisch ergibt das Sinn, die Front ist dadurch kürzer", sagt Gressel. Die Verteidigungsstellungen hinter Awdijiwka seien jedoch nicht so stark, wie sie damals bei Bachmut gewesen seien.
Schwierigste Phase im Ukraine-Krieg
Gressel ist sich sicher: "Jetzt sind wir in der schwierigsten Phase des Ukraine-Krieges seit dem Ende der Schlacht um Kiew." Große Teile der ukrainischen Vorräte und der Depots im Westen seien aufgebraucht. "Gleichzeitig ist die Munitionsproduktion und die Produktion von Rüstungsgütern nicht so hochgefahren, dass man die Ukraine aus der laufenden Produktion ernährt", erinnert Gressel.
Die akute Schwächephase auf der ukrainischen Seite erkläre sich auch durch die schlechte Planung des westlichen Nachschubs. "Das müssen die Ukrainer so gut wie möglich überleben. Dazu können sie es sich nicht leisten, exponierte Positionen zu halten", urteilt Gressel. Damit die Ukraine später wieder die Chance habe, in die Offensive zu gehen, müsse sie jetzt ihre Kräfte erhalten. "In den nächsten Monaten ist mit weiteren schlechten Nachrichten zu rechnen", vermutet Gressel.
Über den Gesprächspartner
- Gustav Gressel ist Experte für Sicherheitspolitik, Militärstrategien und internationale Beziehungen. Er absolvierte eine Offiziersausbildung und studierte Politikwissenschaft an der Universität Salzburg. Schwerpunktmäßig befasst sich Gressel mit Osteuropa, Russland und der Außenpolitik bei Großmächten.
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