- Aus westlicher, aber auch aus russischer Sicht läuft der Krieg für den Aggressor schlecht: Putins Versuch, die Ukraine rasch in die Knie zu zwingen, ist gescheitert.
- Dass der Kreml-Chef jetzt schon das "große Besteck der Atomwaffen" herausholt, ist für den Militärstrategen Gustav Gressel Ausdruck von Verzweiflung. Gewinnen könne Putin den Krieg nur noch mit massiver Gewalt.
- Im Interview spricht Gressel über unterschätzten Widerstand, deutsche Waffenlieferungen und eine mögliche EU-Mitgliedschaft der Ukraine.
Herr Gressel, Sie sind Experte für Sicherheitspolitik und Militärstrategie. Vor ihrem Studium haben Sie selbst eine Offiziersausbildung absolviert. Wie läuft der Krieg aus russischer Sicht?
Gustav Gressel: Für Russland ist die erste Phase des Krieges komplett gescheitert. Putin hat den Krieg vor vielen Entscheidungsträgern geheim gehalten und die Öffentlichkeit hinters Licht geführt. Der Plan war, die Ukraine in zwei Tagen einzunehmen und dann die Weltöffentlichkeit und die EU vor vollendete Tatsachen zu stellen. Das ist missglückt. Das Problem aber: Putin versucht jetzt mit extremer Kraft und der militärischen Brechstange die Sache zu lösen. Wir sehen bereits jetzt eine Verrohung und den massiven Artillerie-Einsatz um Charkiw, um Kiew dürfte sich das in den nächsten Tagen wiederholen. Die Munitionskonvois sind bereits unterwegs.
Putin ist also im "Blitzkrieg" gewissermaßen stecken geblieben?
Ja, deshalb probiert er es jetzt mit Einschüchterung und massiver Gewalt. Das große Besteck der Atomwaffen holt Putin nur heraus, weil er fürchtet, dass die Nato sich einmischen wird – was sie nicht tut. Außerdem hat er seine Fürsprecher im Westen komplett verloren. Auch, wer früher in Talkshows die russische Linie vertreten hat, distanziert sich zunehmend von Russland oder schweigt. Die Verunsicherung vor einem Atomkrieg ist noch das einzige Mittel, die öffentliche Diskussion irgendwie zu beeinflussen oder von einem breiteren Engagement für die Ukraine abzubringen.
US-Präsident
Nein, eher nicht. Die USA scheint derzeit mit Blick auf die russischen Nuklearwaffen keine über den normalen Manöverbetrieb hinausgehende Maßnahmen zu sehen. Sie haben deshalb auch Abstand davon genommen, den Bereitschaftsgrad ihrer eigenen Nuklearwaffen zu erhöhen.
Zurück zur Lage vor Ort: Hat Putin hier den Widerstand der Ukrainer unterschätzt, oder wieso ist er mit seinem "Blitzkrieg" gescheitert?
Ja, definitiv. Putins Fehler war es, nur von seiner eigenen Ideologie auszugehen: Nämlich, dass die Russen und Ukrainer ein Volk sind, die Ukraine ins Reich gehört und man eine Wiedervereinigung erzielen wird. Putin hat vermutlich mit so etwas gerechnet wie Hitler 1938 in Österreich oder im Sudetenland, wo bei einem Blumenfeldzug vorrückende Soldaten von einer begeisterten Bevölkerung als Befreier empfangen wurden. Das ist in der Ukraine nicht der Fall. Im Gegenteil: Selbst in den okkupierten Teilen versammeln sich die Menschen mit ukrainischen Flaggen, sie stellen sich vor Panzer und fordern russische Soldaten auf, ihr Land zu verlassen. Die Befreiung, an die Putin geglaubt hat, gibt es nicht.
Deutschland hat sich entschieden, doch Waffen an die Ukraine zu liefern. Eine Jahrhundertentscheidung, die zuvor eigentlich schon vom Tisch war. Machen die Waffenlieferungen aus dem Westen einen Unterschied?
Ja, sie machen einen Unterschied, vor allem jetzt in der zweiten Phase des Krieges. Die Russen haben logistische Schwierigkeiten, Munition heranzubringen. Die bisherigen Erfolge der Ukrainer kamen nicht von alleine und sie müssen sich nun für die Nahverteidigung von Kiew und anderen Städten wieder aufrüsten. Kürzlich gelieferte Stinger-Raketen kommen durch ukrainische Soldaten schon zum Einsatz, sie unterstützen auch die Verteidigungsbereitschaft.
Die russische Armee hat angekündigt, die Angriffe fortzusetzen, "bis alle Ziele erreicht sind". Wonach sieht es für Sie aus militärstrategischer Sicht aus: Was will Putin?
Er will das ganze Land einnehmen und besetzen. Das hat er in seiner Rede vom 21. Februar und auch in seiner Kriegserklärung gesagt, Ähnliches verlautbaren auch die russische Presse und öffentliche Stellen. Putin will die Ukraine als Land zerschlagen und einen Satellitenstaat vergleichbar mit Belarus errichten. Er will die gegenwärtigen politischen, kulturellen und intellektuellen Eliten der Ukraine ausschalten und sie quasi als Kolonie an Russland binden.
Und kann er das schaffen?
Nur mit extremer Gewalt. Putin muss dafür nicht nur die ukrainische Armee brechen, sondern auch den Willen einer ganzen Bevölkerung. In der Ukraine unterstützen ihn vielleicht fünf bis maximal zehn Prozent. Die restlichen 90 Prozent muss er durch Terror einschüchtern, sodass sie sein Besatzungsregime akzeptieren, oder er muss sie töten. Es handelt sich um einen Vernichtungskrieg und die Geschichte lehrt, mit welch schmutzigen Methoden solche Kriege geführt werden. Sollte Putin nicht durch die wirtschaftliche Schwächung und durch den schwindenden Rückhalt in Russland nicht dazu gezwungen werden, von diesem Krieg Abstand zu nehmen und einen Ausweg zu suchen, dann kommt es in der Ukraine zum Schlimmsten.
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Warum sind dann die Energiebeziehungen bei den Sanktionen für Russland immer noch so gut wie unberührt geblieben? Trotz Swift-Aussetzung wird Russland schließlich weiterhin mit jeder Menge Geld für Kohle und Gas finanziert.
Die Finanzsanktionen haben die schnellsten unmittelbaren Folgen für die russische Wirtschaft, so konnte man am schnellsten reagieren. Die Energiesanktionen liegen zum Teil noch auf dem Tisch. Ich schätze: Je wärmer es wird, desto wahrscheinlicher werden sie. Die Koordination der Ersatzplanung ist vermutlich noch nicht so weit, wie sie sein könnte. Das wird sich zeitnah zeigen.
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Wie sehen Sie zum jetzigen Zeitpunkt eine Aufnahme der Ukraine in die Europäische Union?
Es ist schade, dass die Debatte erst jetzt kommt. Wir müssen aber zunächst das Überleben der Ukraine sicherstellen. Die Ukraine muss erst als souveräner und eigenständiger Staat mit einer Regierung, die aus einem fairen, demokratischen Prozess hervorgegangen ist, bestehen bleiben. Dann kann diese Ukraine in die EU aufgenommen werden.
Die maximalen Kriegsziele Russlands sind es, die Ukraine als Ganze zu besetzen und in einen Vasallenstaat umzuwandeln. Ein Vasallenstaat kann natürlich nicht in die EU. Dass das EU-Parlament die Kandidatur befürwortet hat, ist zwar ein Moralbooster für die Ukraine, aber ob daraus Realität werden kann, hängt von anderen Dingen ab, die wir jetzt dringender zu entscheiden haben, etwa dem Nachschub von Waffen für einen geordneten Widerstand.
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