- Putin hat immer wieder mit Atomwaffen gedroht, zuletzt warnte die US-Regierung aber vor einem ganz anderen Schreckensszenario: Putin könnte den Einsatz von Chemiewaffen vorbereiten.
- Darauf deutet jedenfalls ein altbekanntes Muster in der Rhetorik des Kremls hin.
- Auch Militärexperte Gustav Gressel glaubt, dass Chemiewaffen in Putins Kosten-Nutzen-Rechnung hoch im Kurs stehen.
Die Frage, ob Putin zu Atomwaffen greifen wird, beschäftigt die ganze Welt. Immer wieder hat der Kreml-Chef mit den Säbeln gerasselt, immer wieder hat die Nato ihre roten Linien betont. Dabei sind Nuklearwaffen nicht die einzigen Schreckenswaffen in Putins Repertoire.
Aktuell bereitet vor allem ein möglicher Chemiewaffen-Einsatz der Weltöffentlichkeit Sorge. Die USA haben bereits vor einem solchen Szenario gewarnt. Anfang März erklärte die Sprecherin von US-Präsident
Russland und Chemiewaffen
Russland und Syrien bestreiten das mit Nachdruck. Unabhängige Stellen wie die Vereinten Nationen (UN) konnten allerdings belegen, dass der syrische Machthaber mehrfach Chemiewaffen wie Chlorgas und Sarin gegen sein eigenes Volk eingesetzt hat.
Offiziell ist der Einsatz von Chemiewaffen seit 1997 verboten. Auch Russland gehört zu den 191 Staaten, die sich verpflichtet haben, sogenannten "C-Waffen" weder zu produzieren noch einzusetzen. Allerdings hat spätestens der Anschlag auf den ehemaligen Spion Sergei Skripal mit dem Nervenkampfstoff Nowitschok Zweifel an Russlands Zusage aufgeworfen.
Warnungen an Russland
Ohnehin zeigt der Kreml derzeit lieber mit dem Finger auf andere: Angeblich gäbe es Beweise für militärisch-biologische Aktivitäten der USA in der Ukraine. Ziel der vom Pentagon finanzierten Forschungen sei die Entwicklung "eines Mechanismus zur heimlichen Verbreitung tödlicher Krankheitserreger", sagte der Sprecher des russischen Verteidigungsministeriums, Igor Konaschenkow.
Nicht nur für Bundeskanzler
Bereitet Putin den Einsatz vor?
Die US-Regierung teilt diese Einschätzung und erkennt ein "klares Muster", wie Biden-Sprecherin Psaki auf Twitter schrieb. "Jetzt, wo Russland diese falschen Behauptungen aufgestellt hat, sollten wir alle auf der Hut sein, dass Russland möglicherweise chemische oder biologische Waffen in der Ukraine einsetzt oder eine Operation unter falscher Flagge durchführt", warnte sie.
Auch Militärexperte Gustav Gressel fürchtet, die Vorwürfe Moskaus könnten die propagandistische Vorbereitung dafür sein, den Ukrainern einen Chemiewaffen-Einsatz als False-Flag-Operation in die Schuhe zu schieben.
Putins Kosten-Nutzen-Rechnung
"Unter allen Massenvernichtungswaffen ist der Einsatz von Chemiewaffen als am wahrscheinlichsten einzustufen", sagt Gressel. Dabei gehe es Putin nicht um humanitäre Aspekte, sondern alleinig um eine militärisch-politische Kosten-Nutzen-Rechnung.
"Wenn Putin Städte zerstören will, kann er das auch mit thermobarischen Waffen tun", erinnert Gressel. Dabei riskiere Putin keine derartige internationale Ächtung wie bei Nuklearwaffen. "Der Einsatz von Atomwaffen gegenüber einem nicht-nuklearen Staat wie die Ukraine würde hingegen weltpolitisch viele Staaten, die jetzt neutral oder wohlwollend gegenüber Russland sind – etwa Indien und Brasilien – auf die Seite der Gegner ziehen", schätzt Gressel.
Was gegen Atomwaffen spricht
Außerdem frage sich bei Atomwaffen, gegen wen Putin sie einsetzen sollte. "Wenn er Kiew damit in die Knie zwingen wollte, würde er den von ihm sogenannten "Geburtsort des östlichen Christentums" ausradieren", macht Gressel klar. Das sei der eigenen Bevölkerung kaum zu vermitteln. Gressel ergänzt: "Ein Atomwaffen-Einsatz gegen die Nato würde nukleare Vergeltung hervorrufen – ein Spiel, welches Russland nicht gewinnen kann."
In der Kosten-Nutzen-Rechnung dürfte ein Atomwaffen-Einsatz daher wenig attraktiv erscheinen. Auch der Einsatz biologischer Waffen hat aus Sicht von Gressel für Putin keinen besonderen Reiz. "Vor biologischen Waffen könnte Russland seine eigenen Soldaten und seine eigene Bevölkerung nicht besonders gut schützen", analysiert Putin. Die eigene Invasionsarmee könnte leicht in Mitleidenschaft gezogen werden.
Ein Spiel auf Zeit
"Putin hält bereits das Coronavirus für ein amerikanisches Biowaffen-Programm, das erklärt auch seine enorme Angst davor", kommentiert Gressel. Das Virus habe unter den russischen Streitkräften bereits für Ausfälle gesorgt. "Putin hat also bereits erlebt, wie ein Virus auf die eigenen Streitkräfte wirkt und nach hinten losgehen kann", so der Experte.
Anders sieht es bei Chemiewaffen aus. "Putin spielt gerade auf Zeit. Einen größeren Angriff kann Russland erst wieder antreten, wenn weitere Kräfte in die Ukraine gebracht wurden", so Gressel. Die derzeitigen Kräfte in der Ukraine seien ermattet und überdehnt – Putin brauche Zeit, um sich zu reorganisieren.
Kalkül hinter Chemiewaffen
"Beim Einsatz von Chemiewaffen könnte Putin versuchen, es den Ukrainern in die Schuhe zu schieben und das Land dadurch politisch zu diskreditieren und die Unterstützung im Westen zu untergraben", warnt er. Mit Propaganda und Falschmeldungen könnte er beispielsweise versuchen, zu behaupten, die Ukraine habe Substanzen nicht korrekt gelagert oder ein eigenes Programm sei durch einen Bombentreffer freigesetzt worden.
"Wenn ein solcher Vorfall Waffenlieferungen aus dem Westen verlangsamt, ergibt das militärisch und politisch für Putin Sinn", analysiert Gressel. Die Nato habe bereits Teams für die Detektion von Massenvernichtungswaffeneinsätzen aktiviert und an der Ostgrenze stationiert. "Sollte es zu einem Vorfall kommen, können direkt Proben entnommen und Luftströme überwacht werden", sagt Gressel. So sei kein wochenlanger Prozess der Beweisführung nötig und man könne eine Falschattribution schnell aufklären.
Einsatz von Phosphorbomben
Meldungen über den Einsatz von Phosphorbomben in der Ukraine häufen sich bereits. Ob Phosphorbomben wegen ihrer toxischen Wirkung zu den chemischen Waffen zählen, ist umstritten. Zwar wird der Einsatz von Munition mit weißem Phosphor durch das Genfer Abkommen nicht verboten, aber Angriffe, bei denen Zivilisten unverhältnismäßig Schaden nehmen.
Die Bomben, die ein Gemisch aus weißem Phosphor und Kautschuk enthalten, welches sich beim Kontakt mit dem in der Luft enthaltenen Sauerstoff entzündet, können aber auch aus militärtaktischen Gründen eingesetzt werden. Mithilfe von Phosphorbomben werden etwa Konfliktzonen beleuchtet oder mit Rauch verdunkelt.
Einsatz gegen Zivilbevölkerung
Videos, die unter anderem der britische Sender "ITV" veröffentlichte, sollen Phosphorbomben über der Stadt Irpin nahe Kiew zeigen, der Polizeichef der Ortschaft Popasna berichtet in einem Facebook-Post von einem russischen Phosphorbomben-Einsatz. Auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sagte in einer Ansprache: "Heute Morgen gab es Phosphorbomben. Russische Phosphorbomben. Erneut wurden Erwachsene getötet und erneut Kinder."
Wenn Phosphorbomben die Zivilbevölkerung treffen, zählen laut "Human Rights Watch" schreckliche Verbrennungen, Atemschäden, Infektionen, Schock und Organversagen zu den Folgen. Der Brand, der durch Phosphorbomben entsteht, kann nur mit Mitteln wie Sand erstickt werden. Wer einen Phosphorbomben-Angriff überlebt, trägt oft ein Leben lang schwere Beeinträchtigungen davon. Russland griff 2015 im syrischen Bürgerkrieg bei Luftangriffen bereits darauf zurück.
Verwendete Quellen:
- Zeit.de: Olaf Scholz: "So bitter ist die Lage": 23.03.2022
- Twitter: Profil von Jen Psaki
- France24 English: Zelensky says Russia using phosphorus bombs in Ukraine: 24.03.2022
- Human Rights Watch: From Condemnation to Concrete Action: A Five-Year Review of Incendiary Weapons. November 2015.
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