Einflussreiche Stimmen in Russland fordern nukleare Erstschläge gegen den Westen, andere positionieren sich ebenso klar dagegen. Man müsse den Westen wieder die Angst vor der Vernichtung lehren, so die Argumentation. Warum die Nukleardebatte in Russland gerade jetzt wieder aufflammt und welche Risiken sie birgt, beantwortet der Politikwissenschaftler Tobias Fella.
Es sind radikale Forderungen führender Stimmen der russischen Sicherheitspolitik: Der Ruf nach einem nuklearen Erstschlag gegen den Westen. Und es ist zu vermuten, dass die Botschaften diesmal nicht nur an die innerrussische Öffentlichkeit gerichtet sind - sondern auch an den Westen.
Denn es sind bekannte Figuren wie Dmitri Trenin und Witali Schlykow vom Rat für Außen- und Verteidigungspolitik Russlands, einer Denkfabrik für Sicherheitsanalysen. Auf der Webseite von "Russia in Global Affairs", einem Online-Portal für Fragen russischer Außenpolitik und Globalisierung, fordern die Beiden in Aufsätzen eine Veränderung der russischen Nuklearstrategie, auch Politikwissenschaftler Sergej Karaganov bläst ins selbe Horn.
Angst vor Nukleareinsatz verschwunden?
Die Angst vor einem Nukleareinsatz sei im Westen verschwunden, folglich auch die Sorge vor Moskaus Reaktionen auf die Unterstützung der Ukraine, so die Argumentation. Washington müsse klargemacht werden, dass Russland zu einem nuklearen Erstschlag auf die USA oder andere NATO-Staaten bereit sei. "Die Möglichkeit des Einsatzes von Nuklearwaffen im jetzigen Konflikt darf nicht versteckt werden", heißt es beispielsweise.
Die Nukleardebatte in Russland hat zwei Seiten: Die Politikwissenschaftler Iwan Timofejew und Fjodor Lukjanow, beides einflussreiche Stimmen im sicherheitspolitischen Diskurs, haben sich dagegen positioniert, klar und offen – ein weiteres Indiz dafür, dass die russische Nukleardebatte eine Zuhörerschaft über die Landesgrenzen hinaus sucht.
Warnende Stimmen in Russland
Timofejew schreibt beispielsweise: Der Westen versuche, Russland in der Ukraine auf kleiner Flamme "zum Kochen" zu bringen. Der Einsatz von Nuklearwaffen bedeute zwar, "aus dem Kessel zu springen, in dem die Temperatur zum Siedepunkt gebracht wird", könne aber auch dazu führen, "direkt im Ofen" zu landen. Der Politikwissenschaftler warnt vor einer "radioaktiven Hölle" und rät eher darauf zu bauen, dass der Westen irgendwann das Interesse an der Ukraine verliert.
"Es ist bedeutsam und besorgniserregend, dass wir an einem Punkt in der Debatte angekommen sind, an dem offen über die Vorteile und Nachteile eines Einsatzes von Nuklearwaffen nachgedacht wird", sagt Politikwissenschaftler Tobias Fella.
US-Senatoren: "völlige Vernichtung" durch NATO
Er verweist auf die Resolution der US-Senatoren Lindsey Graham und Richard Blumenthal als Reaktion auf die Stationierung taktischer Atomwaffen in Belarus - zum ersten Mal seit dem Zerfall der Sowjetunion. Graham und Blumenthal stellten klar, dass jeder Einsatz einer taktischen Nuklearwaffe durch Russland, Weißrussland oder deren Stellvertreter oder die Zerstörung einer Nuklearanlage, die radioaktive Schadstoffe auf NATO-Territorium freisetzt, als Angriff auf die NATO selbst betrachtet wird.
Vor der Presse sagte US-Politiker Graham: "Die Bedrohung durch den Einsatz einer Atombombe durch Russland ist real. Der beste Weg, diese Bedrohung abzuschrecken, besteht darin, Putins Russland Klarheit darüber zu verschaffen, was passiert, wenn es Atomwaffen einsetzt", sagte Graham. Beim Einsatz von taktischen Atomwaffen riskiere Putins Militär "die völlige Vernichtung durch die NATO-Streitkräfte".
Warum die Debatte jetzt hochkocht
Fella sagt dazu: "Wir müssen leider feststellen, dass wir in eine sehr gefährliche Phase eintreten. Wenn der Kreml den Vorschlägen einiger russischer Intellektueller folgt, könnte das in eine mit der Kuba-Krise vergleichbaren Situation münden." Dass die Debatte in Russland genau jetzt und in dieser Form hochkocht, hält Fella für keinen Zufall. Man müsse sich vor Augen führen, dass es Teil des Krieges sei, Narrative zu verbreiten, die Deutungshoheit zu haben und Verunsicherung zu schüren.
"Die ukrainische Gegenoffensive könnte eine Rolle spielen. Vielleicht will man dem Westen vermitteln, wohin die Unterstützung der Ukraine führen könnte und damit das Ausmaß der Unterstützung und der Offensive selbst einhegen", mutmaßt er.
Im Juli finde außerdem der Nato-Gipfel in Vilnius statt. Durch rhetorische Verschärfungen versuche Russland den Verlauf und die Ergebnisse zu beeinflussen. Die Botschaft laute: "Seid wirklich vorsichtig, was ihr da beschließt, unterschätzt nicht unsere möglichen Reaktionen", so der Experte.
Experte: "Risiko für Nuklearkrieg steigt"
"Eine Rolle beim Zeitpunkt könnte auch die bevorstehende Stationierung von russischen Nuklearwaffen in Belarus spielen. Es gehen neue Eskalationsoptionen damit einher", erinnert er. Durch die Stationierung werde Belarus noch stärker an Russland gebunden. "Der Schritt kann auch als Strafe für das Nachbarland Polen für seine klare Kante gegen Moskau gesehen werden", schätzt der Experte. In der Diskussion über Ziele für Erstschläge war immer wieder die polnische Stadt Posen genannt worden.
Aus Sicht von Fella steigt auch das Risiko, dass die russische Führung zur Einschätzung gelangt, einen begrenzten Nuklearkrieg in Europa führen zu können oder sogar zu müssen.
"Mehr Waffen und ihre Bewegung kreieren fast unvermeidlich höhere Risiken. Nuklearwaffen und ihre Trägersysteme in Belarus wären aufgrund ihrer geringen Distanz zur NATO besonders verwundbar. Im Konfliktfall müsste beispielsweise der Kreml schnell entscheiden, ob er sie einsetzt oder verliert. Betont werden sollte aber auch, dass russische Nuklearwaffen in Belarus dazu dienen könnten, eine Unterminierung Lukaschenkos abzuschrecken", erläutert er.
Nukleare Abschreckung funktioniert
Die Debatten und Ängste über Atomwaffen seien im Kalten Krieg sicher ausgeprägter als heute gewesen. Dennoch könne man sagen: "Nukleare Abschreckung hat bislang insoweit funktioniert, dass wir keinen Krieg zwischen den USA, der Nato und Russland haben", sagt Fella. Aus russischer Sicht hätten die Nuklearwaffen verhindert, dass die Nato in den Krieg eintritt. "Gleichzeitig könnte man auch sagen, dass die nukleare Abschreckung dazu beigetragen hat, dass beispielsweise die USA bei ihren Waffenlieferungen an die Ukraine immer sehr achtsam und step-by-step vorgegangen sind", so der Experte weiter.
Die Abschreckung mit Nuklearwaffen bleibe jedoch ein problematisches Thema. "Die Entscheidung über den Einsatz von Nuklearwaffen wird von Menschen getroffen, die unter großem Stress stehen. Sie haben nie alle Informationen, die sie brauchen und die verschiedenen Seiten haben unterschiedliche Vorstellungen davon, was ein rationaler Einsatz ist", erinnert er.
Simulationsspiele enden in Atomkrieg
Was im Fall eines nuklearen Erstschlags passieren würde, sei spekulativ. "Simulationsspiele münden aber meist in einen großen Atomkrieg, der sich nicht einhegen lässt", sagt der Experte.
Recht klar sei aber, dass Russland ein Paria-Status in der Welt drohe. "Wenn Russland Nuklearwaffen einsetzt, wird es selbst nahestehenden Ländern schwerfallen sich hinter Russland zu stellen", so Fella. In der Nukleardebatte hält er es für die größte Gefahr, dass Russland, die Nato und die USA die Logiken des jeweiligen anderen nicht mehr verstehen.
Die Logiken des Anderen
Es sei aber sehr wichtig, sich mit den möglichen Logiken der Gegenseite zu befassen und "sei es nur, um den Krieg vor der nuklearen Eskalation zu bewahren", mahnt Fella. Das alles sei ein "Krieg der Nerven, ein sehr ernster, der vor dem Hintergrund des Prigoschin-Aufstands vom Wochenende noch an Brisanz gewinnt".
Wenn der Westen die Drohungen fälschlicherweise nicht ernst nehme und die Risikobereitschaft Moskaus unterschätze, könne das zu einer Katastrophe führen. Wenn man den russischen Diskurs und die Eskalationsbereitschaft hingegen überinterpretiere, könne es sein, dass Russland in der Ukraine Ziele erreicht, von denen man nicht möchte, dass Moskau sie erreicht.
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