Russland gilt vielen als machthungriger Aggressor, der einen neuen Kalten Krieg anstachelt. Aber wie gut kennen wir das Land? Martin Hoffmann vom Deutsch-Russischen Forum erklärt im Interview mit unserem Portal, warum die Fronten so verhärtet sind und wie sich Moskau und der Westen wieder annähern können.
Wie gut verstehen wir im Westen Russland?
Martin Hoffmann: Ich bin mit dem Wort "Russland-Versteher" nie glücklich gewesen. Ich hätte nie den Anspruch, Russland verstehen zu können. Übrigens habe ich auch nicht den Anspruch, Deutschland verstehen zu können.
Wie beurteilen sie die Kommunikation zwischen Russland und dem Westen?
Die Kommunikation ist sehr schlecht. Um das zu erklären, greife ich auf die Geschichte von den zwei Erzählungen zurück. Es gibt ein russisches Narrativ zur Krim-Krise und ein westliches Narrativ. Beide Erzählungen sind in sich absolut kohärent, logisch aufgebaut, sie sind in großen Teilen beweisbar, es gibt jeweils viele Zitate und Wissenschaftler, die angeführt werden. Aber eine geglückte Kommunikation würde jetzt darin bestehen, aus diesen beiden Erzählungen auszubrechen und sich zu überlegen: Wie kann eine gemeinsame Erzählung eines großen Europas lauten, damit es sowohl für die Ukraine als auch für den Zusammenhalt in Europa wieder aufwärts geht.
Zwei Geschichten – das wiederum spräche dafür, dass westliche Politiker Russland in einigen Punkten durchaus falsch verstehen?
Nein, das zeugt davon, dass sich jeder gar nicht mehr mit der Geschichte des anderen beschäftigt. Dass man nicht bereit ist, aus dem Diskurs auszubrechen – dem Diskurs darüber, wer Schuld hat. Stattdessen stagnieren wir seit Beginn dieser Krise in endlosen Schuldzuweisungen. Auf diese Art bewegen wir uns nicht von der Stelle.
Wie kommt es, dass man derart aneinander vorbeiredet?
Man ist einfach gar nicht bereit, sich intensiv mit den Argumenten der anderen Seite zu beschäftigen, sondern bezieht sofort eine Gegenposition. Es geht darum, wie man die Erzählung des anderen möglichst hervorragend widerlegen kann, wie die moralische Schuld möglichst beim Anderen platziert. Auch bei den Olympischen Spielen von Sotschi ging es beispielsweise nur darum, wieviel Korruption es gab und wie viel Geld Russland aufgewendet hat, um das eigene Image besser darzustellen. Es zeigt sich immer wieder, dass wir unseren Standpunkt nicht verlassen wollen.
Wie sähe richtiges "Verstehen" denn aus?
Wir müssen das andere Narrativ nicht glauben, aber wir müssen es respektieren. Wir sollten die Gegenseite nicht von etwas überzeugen wollen, was im Moment vollkommen sinnlos und geradezu kontraproduktiv ist. Sondern wir sollten versuchen an einer gemeinsamen Erzählung zu arbeiten, die uns aus dieser Krise herausführt. Doch leider ist das nicht einmal im Ansatz zu sehen.
Westlichen Politikern wird oft Arroganz im Umgang mit Russland vorgeworfen. Wie sehen Sie das?
Der Vorwurf der Arroganz bezieht sich auf einen Standpunkt des Westens, der am Ende einer Entwicklung ein prosperierendes, freies und liberales Europa sieht. Russland wird dabei häufig als ein Land gesehen, das diesen Aufstieg noch nicht geschafft hat. Einige sagen: Naja, die brauchen noch ein bisschen Zeit. Aber es wird nicht deutlich, dass es hier um Länder geht, die zum Teil ganz unterschiedliche kulturelle und historische Wurzeln haben.
Bei uns wird Russland häufig mit militärischer Aufrüstung verbunden und als Aggressor gesehen. Wie reagieren die Menschen in Russland auf diese Sicht?
Die Menschen reagieren darauf mit großem Unverständnis. Russische Bürger – und das gilt schon seit der Sowjetunion – haben Deutschland gegenüber schon lange eine große Sympathie empfunden. Ihre Sicht ist diese: Wir vergessen niemals die Leiden des Zweiten Weltkriegs, aber wir reichen Deutschland die Hand und haben auch viel für die Wiedervereinigung getan. Jetzt allerdings fühlen sich viele Russen zurückgestoßen und sind verbittert, weil ihr Land nur noch als Aggressor gesehen wird.
Wenn die Bürger ihr Land selbst anders sehen, wie schauen sie dann auf die Ukraine-Krise?
Die Mehrheit der Bevölkerung folgt wohl der russischen Erzählung, die in etwa so geht: Für sie hat alles damit angefangen, dass am 21. Februar 2014 ein Abkommen zur Beilegung der Krise in der Ukraine unterzeichnet wurde, das dann nicht eingehalten wurde. Aus ihrer Sicht gab es Grund zu der Annahme, das ein faschistisches Regime an die Macht kommen könnte. Deshalb habe man schnell handeln müssen. Und deshalb sei die Krim zurückgeholt worden, die sowieso schon Jahrhunderte zu Russland gehört hatte. Der wichtigste Punkt ist dabei aber die emotionale Seite: In Russland ist eine extrem emotionale Debatte in Gang. Das Thema Ukraine wird dort wie auch in vielen Nachfolgestaaten der Sowjetunion ganz anders wahrgenommen, als das bei uns jemals passieren würde. Bei uns geht es um Moral, um Gerechtigkeit, um richtiges und falsches Handeln. In Russland hingegen geht es zusätzlich um eine tiefe emotionale Verbundenheit und vielfältige familiäre Verflechtungen mit einem Volk, mit dem die Russen eine ganz lange gemeinsame Geschichte teilen.
Im Mittelpunkt der Krise steht auch Waldimir Putin, der vielen als unberechenbar gilt. Welche Meinung haben die Russen von ihrem Präsidenten?
Große Teile der Bevölkerung solidarisieren sich so stark mit Putin wie schon lange nicht mehr. Wir haben im Moment die verrückte Situation, dass ausgerechnet diejenigen Putin am meisten helfen, die ihn am härtesten kritisieren. Durch die Sanktionen und durch die mediale Front aus Europa, wie sie in Russland empfunden wird, ist Putins Beliebtheit im letzten halben Jahr auf die Rekordhöhe von 88 Prozent gestiegen. Das hatte er in all den Jahren vorher nicht im Ansatz geschafft – im Gegenteil: Seine Beliebtheitswerte bröckelten sogar merklich. Erst die Schuldzuweisungen aus Europa haben das russische Volk dazu gebracht, sich voll hinter Putin zu stellen. Und das kann nicht der Sinn kluger und umsichtiger Politik sein.
Wie könnte eine gemeinsame Politik stattdessen aussehen?
Meiner Meinung nach gibt es im Minsk-II-Abkommen eine Vielzahl von Punkten, die uns eine Chance geben würden, den Stillstand der zwei Erzählungen aufzubrechen. Das sind alles Punkte, in denen eine stärkere Verflechtung zwischen Ukraine, Russland und Europa betont wird. Natürlich ist das sehr schwierig, denn Emotionen schlagen hoch und alte Wunden brechen auf. Aber es gibt dazu keine Alternative.
Martin Hoffmann ist seit 2000 geschäftsführendes Vorstandsmitglied des Deutsch-Russischen Forums in Berlin. Er beschäftigt sich intensiv mit den deutsch-russischen Beziehungen, sein Schwerpunkt liegt dabei auf der zivilgesellschaftlichen Zusammenarbeit.
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