• Sachsen liegt mit einem Inzidenzwert von derzeit 441 weit vor dem bundesweiten Durchschnitt
  • Der politisch verantwortliche Ministerpräsident Michael Kretschmer aber fährt in der Corona-Pandemie keinen klaren Kurs
  • So warnte der CDU-Politiker monatelang vor zu viel Hysterie, um im Dezember die Bevölkerung für die Entwicklung in seinem Bundesland verantwortlich zu machen.

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Wenn das Robert-Koch-Institut (RKI) neue Höchstwerte an Neuinfektionen und Todeszahlen meldet, legt Sachsen noch eine Schüppe drauf: Mit einem Inzidenzwert von derzeit 441 pro sieben Tagen infizieren sich in dem Freistaat pro 100.000 Einwohner mehr als doppelt so viele Bürger wie im Bundesdurchschnitt (196).

Zudem sind annährend 40 Prozent der Intensivbetten mit Corona-Patienten belegt. Auch dabei hält Sachsen den traurigen Rekord im gesamtdeutschen Ländervergleich. In Schleswig-Holstein liegt dieser Wert bei sechs Prozent.

Und in einem Online-Bürgerforum sorgte der Ärztliche Leiter eines Klinikums in Ostsachsen, Dr. Mathias Mengel, mit Berichten über den Einsatz von Triage für Aufsehen. Offiziell bestätigen wollte das später jedoch niemand.

Politisch in der Verantwortung für den Mega-Hotspot: Ministerpräsident Michael Kretschmer. Der CDU-Politiker steht für seinen Hü-Hott-Kurs ziemlich in der Kritik.

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Kretschmer noch im Oktober: "Keine Hysterie, bitte!"

Denn noch Mitte Oktober hatte der Landeschef im Vorfeld des Treffens der Ministerpräsidenten mit der Kanzlerin gewarnt: "Keine Hysterie, bitte!". Kretschmer sprach sich gegen neue Maßnahmen in der Bekämpfung des Coronavirus aus.

Knapp zwei Monate später schlägt Kretschmer einen ganz anderen Ton an. Am Dienstag twitterte er: "Es gibt Krankenhäuser, in denen das Personal bis zur Erschöpfung arbeitet, & zwei Straßen weiter demonstrieren Menschen, die die Existenz des #Coronavirus leugnen. Das ist nur schwer auszuhalten."

Die Äußerungen stoßen auf Unmut. So hatte sich Kretschmer im August selbst mit prominenten Corona-Relativierern getroffen, darunter Sucharit Bhakdi und Stefan Homburg, deren Behauptungen zur Gefährlichkeit des Virus schon mehrfach wissenschaftlich widerlegt worden sind.

Corona-Demonstranten "ernstnehmen"

Im Mai hatte Kretschmer noch gefordert, Corona-Demonstranten ernst zu nehmen. Mehrfach versuchte sich der CDU-Politiker im Dialog mit Menschen, die gegen die Corona-Maßnahmen demonstrierten. Auf einer Kundgebung in Dresden hatte Kretschmer eine Stunde lang Gespräche mit Gegnern der Maßnahmen geführt und dafür viel Kritik auf sich gezogen. Kretschmer hatte keinen Mundschutz getragen.

Im November verurteilte Kretschmer die Großdemonstration gegen die Corona-Maßnahmen in Leipzig hingegen scharf. "Keiner von uns in der sächsischen Staatsregierung und ich glaube auch der überwiegende Teil der Menschen in Deutschland hat Verständnis für diese Art von Demonstrationen" sagte Kretschmer in einem Onlinepressbriefing. Er warf den Demonstranten "Leichtsinnigkeit und Hybris" vor.

Kretschmer weist Verantwortung von sich

Kretschmer selbst hatte sich monatelang für Lockerungen ausgesprochen und an die Eigenverantwortlichkeit der Menschen appelliert. Sachsen hatte als erstes Bundesland die Maskenpflicht eingeführt, allerdings nach dem Lockdown im März auch als erstes Land wieder mit dem Schulunterricht begonnen und für diesen Sonderweg massiv in der Kritik gestanden.

Anfang Dezember aber sah auch Kretschmer in einem ZDF-Interview ein: "Wir können auf diesem hohen Niveau nicht durch den Winter kommen, wenn wir die medizinische Versorgung garantieren wollen".

Verantwortung für die dramatische Situation in seinem Bundesland verteilt Kretschmer jedoch lieber auf andere Schultern. Im ZDF-Morgenmagazin gefragt: "Haben Sie die Situation in Sachsen unterschätzt?" entgegnete Kretschmer: "Wir haben dieses Virus unterschätzt, alle miteinander." Seit der 40. Kalenderwoche erlebe man überall in Deutschland einen Sprung nach oben "auch hier bei uns im Freistaat Sachsen". Jetzt brauche es ein Umdenken.

Warnungen im Vorfeld überhört

Dabei hatte es im Vorfeld genügend Warnungen gegeben: Schon im März dieses Jahres warnte der Berliner Chef-Virologe Christian Drosten vor einer verheerenden Corona-Welle nach dem Sommer und prognostizierte eine "schlagartige Zunahme der Fälle mit schlimmen Folgen und vielen Toten".

Im Gespräch mit der "Neuen Osnabrücker Zeitung" warnte er: "Wir müssen jetzt mit Hochdruck mehr Kapazitäten an Intensivbetten schaffen, sonst wird es zu schwierigen Entscheidungen kommen."

Vieles spreche dafür, dass es Fälle geben werde, in denen Mediziner entscheiden müssten, wen sie retten wollen. "Das ist kein Alarmismus, der mir manchmal vorgeworfen wird. Das sind keine Horrorszenarien, sondern wird Realität werden, wenn es zu einer schnellen Ausbreitung kommt", sagte Drosten im Frühjahr.

Hilferuf der Bestatter

Kurze Zeit später behauptete Kretschmer bei Anne Will: "Es ist uns gelungen durch ein wirklich kluges Handeln, und man sieht da wieder, das ist typisch deutsch. Es gibt ein Problem, dann machen die Deutschen einen Plan, dann machen sie eine Strategie, dann fangen sie an den abzuarbeiten, zu optimieren, und am Ende läuft alles wie am Schnürchen."

Dass nicht alles "wie am Schnürchen" läuft, zeigen nicht nur die Hilferufe von sächsischen Ärzten und Pflegern, sondern auch der Bestatter in dem Freistaat. Innungsobermeister Wenzel sagte der Deutschen Presse-Agentur, alle zehn Krematorien mit rund 1.700 Kühlplätzen in Sachsen seien an der Grenze des Machbaren angelangt.

Sachsen hatte Mitte Dezember zumindest insofern Konsequenzen gezogen, als dass der Freistaat früher als die anderen Länder in den harten Lockdown ging. "Deswegen ist mein Weg jetzt hier in Sachsen, entschieden durchzugreifen", sagte Kretschmer im ZDF-Interview.

Die Schuld für die verschärften Maßnahmen schob er aber anderen in die Schuhe: Die Mahnungen "sind in der Bevölkerung zu wenig gehört worden". Kretschmer schob nach: "Die Situation ist viel dramatischer als im Frühjahr und die Bevölkerung geht viel lockerer mit dieser Situation um. Das ist sehr gefährlich und hat uns jetzt in diese Situation geführt."

Angriff auf Handwerksbetriebe

Ob er selbst vielleicht zulange gezögert habe, als Wissenschaftler und Kanzlerin längst härtere Maßnahmen forderten? Auch hier wich Kretschmer der Frage aus: Es gehe nicht darum "1:1 zu vollziehen, was ein Wissenschaftler sagt, sondern für gesellschaftliche Mehrheiten zu werben". "Das haben wir hier in Sachsen, überall in Deutschland, sehr intensiv getan", erklärte Sachsens Landeschef.

Verantwortung wies Kretschmer auch in einer Video-Konferenz der Konrad-Adenauer-Stiftung von sich. Darin hatte er gesagt: "Es sind die Handwerksbetriebe, wo die Kollegen zusammen beim Frühstück sitzen und sich unterhalten. Und dort kommen die Infektionen her". Es sei immer noch der private Bereich. Die Großbetriebe hingegen hätten hervorragende Hygienekonzepte.

Die Handwerkskammer Chemnitz wandte sich daraufhin in einem offenen Brief an Kretschmer und schrieb: "Diese Aussage, sehr geehrter Herr Ministerpräsident, können und wollen wir (...) so nicht stehen lassen." Die Handwerksbetriebe würden die wichtigen Vorgaben genauso ernst nehmen, wie alle anderen Unternehmen aus Industrie, Handel, Medizin auch.

Verwendete Quellen:

  • Robert-Koch-Institut (RKI): Coronavirus Fallzahlen; Intensivregister; Kartenansichten; Stand 25.12.2020
  • Sachsen.de: Infektionsfälle in Sachsen, Stand 24.12.2020
  • Twitter-Profil von Michael Kretschmer
  • Correctiv: "Im Netz der Corona-Gegner"
  • Neue Osnabrücker Zeitung: "Ist Deutschland für die zweite Corona-Welle gewappnet?"
  • ZDF, "Morgenmagazin" vom 02.12.2020
  • ARD, "Anne Will" vom 19.04.2020
  • ZDF, "Heute Journal" vom 09.12.2020, Interview mit Michael Kretschmer
  • Handwerkskammer Chemnitz: Offener Brief an MP Kretschmer
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