Die Schweiz hat am 22. Oktober gewählt und erlebt einen Rechtsruck: Wahlsieger ist die rechtskonservative SVP, die um neun Sitze zulegt. Gleichzeitig erleben die Grünen eine Wahlniederlage und büßen fünf Sitze ein. Was bedeutet das Wahlergebnis? Zwei Politikwissenschaftler erklären, welche Themen die Wahl entschieden haben, wieso die Grünen so abrutschen und welche Stimmung nun zu erwarten ist.
Die Schweizerinnen und Schweizer haben am 22. Oktober über ihr neues Parlament abgestimmt. Ergebnis: Das Land erlebt einen Rechtsruck. Die rechtskonservative SVP kam auf 28,6 Prozent der Stimmen (Stand: 23. Oktober) und legte damit um 3 Prozentpunkte im Vergleich zu 2019 zu. Das wäre mehr, als Beobachter erwartet hatten. Sollte es dabei bleiben, wäre es das zweitbeste Resultat der 1971 gegründeten Partei.
Zu den Wahlsiegern zählt auch die Sozialdemokratische Partei (SP). Sie verbesserte ihr Ergebnis um 1,2 Prozentpunkte auf 18 Prozent der Wählerstimmen. Ein Kopf-an-Kopf-Rennen hatten sich zuletzt FDP und Mitte-Partei geliefert. Die FDP landet bei 14,4 Prozent Wähleranteil (-0,7) und hat damit 28 Sitze. Die Mitte-Partei kommt auf 14,6 Prozent der Wählerstimmen, für sie bedeutet das aber ein Gewinn von 0,8 Prozentpunkten und 29 Sitze.
Wahlschlappe für die Grünen
Zur Wahlschlappe wurde der Abend hingegen für die Grünen. Sie kamen auf 9,4 Prozent der Wählerstimmen (minus 3,8 Prozentpunkte) und rutschten damit unter die 10-Prozent-Schwelle. Verluste fährt auch die Grünliberale Partei ein. Sie verliert mit einem Wähleranteil von 7,2 Prozent insgesamt sechs Sitze.
Politikwissenschaftler Tobias Arnold sieht in dem starken Wahlergebnis für Schweizer Verhältnisse mehr als einen Mini-Rechtsruck. "Die Parlamentsarbeit ist von wechselnden Mehrheiten geprägt und nicht von einer Regierungskoalition und einer Opposition. Bei Parlamentswahlen in der Schweiz geht es somit nicht darum, ob eine regierende Koalition abgewählt wird oder nicht", sagt er. Das sieht auch Politikwissenschaftler Alexander Trechsel so. "Es ist eine Art 'Rück-Rechtsrutsch' und eine Wiederherstellung der Situation von 2015", beschreibt er.
Migration war Hauptthema im Wahlkampf
Deshalb seien Verschiebungen zwischen den Parteien auch immer sehr klein, in der Regel im kleinen einstelligen Prozentbereich. "Trotzdem: Mehr als 3 Prozentpunkte Zuwachs für die SVP ist zwar kein Erdrutschsieg, aber doch eine beachtliche Zunahme", sagt er.
Punkten konnte die SVP aus seiner Sicht vor allem beim Thema Migration. "Die starke Zuwanderung in der Schweiz war das Wahlkampfthema auf der rechten Seite", sagt Arnold. Erst kürzlich sei in der Schweiz die 9-Millionen-Einwohner-Grenze überschritten worden. "Die SVP konnte damit direkt Wahlkampf machen mit dem Slogan 'wir wollen keine 10-Millionen-Schweiz'", erinnert er.
Auch soziale und wirtschaftliche Themen hätten eine Rolle gespielt: "Kürzlich wurde bekannt, dass die Prämien der Krankenversicherung nächstes Jahr deutlich zunehmen werden und in den urbanen Gebieten kämpft man mit Wohnungsknappheit", sagt der Experte.
Wählerwanderung im linken Spektrum
Gerade auf der linken Seite hätten diese Themen stärker mobilisiert als noch vor vier Jahren das Klima-Thema – "weshalb nun auch die SP im linken Spektrum als Gewinnerin hervorgeht und nicht die Grüne Partei", analysiert Arnold. Die Zugewinne der SP seien vor allem auf Kosten der Verluste bei den Grünen erfolgt. "Es handelt sich hier um Wählerbewegungen innerhalb des linken Spektrums", beobachtet er.
Arnold erinnert: 2019 hatten die Grünen einen für Schweizer Verhältnisse sehr großen Erfolg verzeichnet. "Immerhin fallen sie mit dem Ergebnis für 2023 nicht wieder komplett aufs Niveau von 2015 zurück", sagt er. Dennoch sei es eine deutliche Niederlage.
Wahl in unsicheren Zeiten
Arnold hat eine Erklärung: Im Jahr 2019 seien progressive Themen dominant gewesen – Klima und Gleichstellung hätten große Massen an Wählerinnen und Wählern mobilisieren können. "Prägten 2019 noch die Klimademonstrationen junger, engagierter Menschen die Schlagzeilen, waren es 2023 eher die Klimakleber, die sich bei Autobahnen auf Straßen geklebt haben und den Verkehr lahmgelegt haben", sagt Arnold.
Außerdem seien die Zeiten unsicherer geworden: "Seit 2019 haben wir eine Pandemie und den Beginn zweier Kriege erlebt. In solchen unsicheren Zeiten werden wirtschaftliche Themen wichtiger und das Klima-Thema verliert an Bedeutung", führt er aus. Durch das Wahlergebnis sei es nun noch unwahrscheinlicher geworden, dass die Grünen einen Bundesratssitz holen. Hier ist sich auch Experte Trechsel sicher: "Der Anspruch der Grünen auf einen Sitz im Bundesrat ist – zumindest für die nächsten vier Jahre – vom Tisch."
Politisches Klima wird giftiger
Arnold schließt aus dem vorläufigen Wahlergebnis: "Die Polparteien haben an Stärke zugelegt. Das politische Klima dürfte noch etwas giftiger werden in den kommenden Jahren." Bezüglich der möglichen Mehrheiten habe sich aber wenig geändert. Während SVP und FDP auf keine rechte Mehrheit kommen, bringen SP, Grüne und GLP es auf keine ökologische Mehrheitskoalition.
"Insofern wird sich in der Schweizer Politik auch in den nächsten Jahren nicht viel ändern: Für die Mehrheitsbildung kommt den Parteien in der Mitte, allen voran der Partei 'Die Mitte' eine wichtige Rolle zu", sagt Arnold. Auch wenn jetzt von einem Rechtsruck die Rede sei: Das eigentliche Wort, dass diese Wahlen beschreibe, sei Stabilität.
Experte: Schraube dürfte angezogen werden
Aus Sicht von Trechsel ergeben der Sieg der SVP und die großen Verluste bei den Grünen und Grünliberalen einen deutlich rechteren Nationalrat als bisher. "Es ist zu erwarten, dass vor allem auf dem Gebiet der Migration die Schraube angezogen wird", sagt er.
Die Klimaerwärmung werde schwerer zu bekämpfen sein. "Wenigstens im Parlament, denn die Verlierer werden weiterhin über die direktdemokratischen Mittel wie das Referendum und die Volksinitiative verfügen – und von diesen Gebrauch machen", so der Experte.
Von Bedeutung wird es aus Sicht von Arnold aber auch sein, wie der Ständerat aussehen wird – der in der Schweiz genauso mächtig ist wie der Nationalrat. "Die Polparteien haben es dort schwieriger", sagt Arnold.
Das dürfte auch dieses Mal der Fall sein, die zweiten Wahlgänge in diversen Kantonen seien aber noch abzuwarten. "Deshalb verraten die Prozentzahlen, über die man heute spricht, eigentlich nur die halbe Wahrheit darüber, wie die Schweiz politisch in Zukunft aussehen wird."
Zu den Gesprächspartnern:
- Dr. Tobias Arnold hat an den Universitäten Bern, Luzern und Lausanne Politik-, Verwaltungs- und Geschichtswissenschaften studiert. Im Jahr 2020 promovierte er an der Universität Bern im Fach Politikwissenschaft mit Themenschwerpunkt Schweizer Föderalismus.
- Prof. Dr. Alexander Trechsel ist Professor für Politikwissenschaft mit Schwerpunkt Politische Kommunikation an der Universität Luzern.
Verwendete Quellen:
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.