Viele Deutsche sorgen sich angesichts der Lage in der Ukraine vor einer Ausweitung des Krieges. Der neue Nato-Generalsekretär hält das zwar für unbegründet, sieht aber dennoch erheblichen Handlungsbedarf.

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Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine dauert bereits mehr als 1.000 Tage und viele Nato-Staaten rüsten aus Sorge vor einer möglichen Ausweitung des Konflikts enorm auf. Doch reichen die aktuellen Anstrengungen aus? Und was sind die Szenarien, wenn am 20. Januar Donald Trump seine zweite Amtszeit als US-Präsident antritt?

Im Interview mit der Deutschen Presse-Agentur steht der neue Nato-Generalsekretär Mark Rutte Rede und Antwort und bezieht dabei auch deutlich Stellung zur Ukraine-Politik von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD).

Herr Generalsekretär, wie viel Angst sollten die Menschen in Deutschland und anderen Nato-Ländern vor Russland und Wladimir Putin haben?

Mark Rutte: Derzeit müssen wir keine Angst haben. Aber langfristig mache ich mir Sorgen. Wenn wir unsere Verteidigungsausgaben nicht erhöhen, werden wir in vier bis fünf Jahren ein ernsthaftes Problem haben. Wir müssen die Verteidigungsindustrie stärken und die Produktion ausweiten. Es müssen zusätzliche Produktionslinien und Schichten eingerichtet werden, da wir nicht genug Militärgüter produzieren, um uns langfristig zu schützen. Noch haben wir Zeit, uns vorzubereiten und unsere Abschreckung zu stärken, um einen Krieg auf Nato-Territorium zu verhindern. Aber wir müssen jetzt handeln.

In Deutschland könnte es nächstes Jahr einen Regierungswechsel geben. Hielten Sie es für eine gute Idee, wenn die neue Regierung beschließen würde, Taurus-Marschflugkörper an die Ukraine zu liefern?

Ganz allgemein wissen wir, dass solche Fähigkeiten für die Ukraine sehr wichtig sind. Aber es ist nicht an mir zu entscheiden, was Alliierte liefern sollten. Falls sie liefern, ist aber unser Rat, bei der Nutzung der Waffen keine Einschränkungen zu machen.

Bundeskanzler Olaf Scholz wird vorgeworfen, im aktuellen Wahlkampf mit Kriegsängsten zu spielen. Was denken Sie darüber?

Ich bin nicht sicher, ob diese Einschätzung richtig ist. Was Olaf Scholz getan hat, ist beeindruckend. Scholz hat mit dafür gesorgt, dass Deutschland nach den USA an zweiter Stelle bei der militärischen Unterstützung der Ukraine steht, mit 28 Milliarden Euro, in manchen Berechnungen sogar 34 Milliarden. Das ist eine gewaltige Summe, weit vor vielen anderen Ländern, einschließlich großer Volkswirtschaften Europas. Das ist ein Verdienst von Olaf Scholz, für den wir und auch die Ukraine Olaf Scholz dankbar sein können.

Ich denke, auch Friedrich Merz unterstützt diese Politik. Falls er Kanzler wird, könnte er andere Schwerpunkte setzen, aber insgesamt gibt es im Großteil der deutschen politischen Klasse einen Konsens, die Ukraine zu unterstützen. Ich sehe nicht, dass Scholz Ängste schürt. Natürlich läuft ein Wahlkampf, aber das zu bewerten, liegt nicht in meiner Zuständigkeit. Ich ergreife keine Partei, da ich sowohl mit Olaf Scholz als auch mit Friedrich Merz arbeiten kann.

Präsident Selenskyj kritisiert aber immer wieder Olaf Scholz und nicht Emmanuel Macron. Warum?

Ich habe Selenskyj oft gesagt, dass er aufhören soll, Olaf Scholz zu kritisieren, denn ich halte das für unfair. Ich sehe, was Scholz im Europäischen Rat leistet, seit er im Dezember 2021 Angela Merkel abgelöst hat. Besonders seit Februar 2022, als der umfassende Angriff begann, war Scholz immer da. Vielleicht ist er nicht der Typ, der damit prahlt, aber ich finde, das ist auch eine sympathische Eigenschaft. Ich denke, dass Friedrich Merz, falls er die Wahlen gewinnt, diese Politik fortsetzen wird. Es könnten kleinere Änderungen geben, aber generell versteht Deutschland, dass unsere Werte und unsere kollektive Sicherheit auf dem Spiel stehen. Falls die Ukraine verlieren würde, müssten wir viel, viel mehr für Verteidigung ausgeben, um der russischen Bedrohung etwas entgegenzusetzen.

In wenigen Wochen wird Donald Trump wieder Präsident der Vereinigten Staaten sein. In seiner ersten Amtszeit hat er mit einem Austritt der USA aus der Nato gedroht, wenn die Alliierten nicht sofort zwei Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung ausgeben. Was kommt nun auf uns zu?

Ich denke, wir können Donald Trump dafür dankbar sein, dass wir jetzt bei Verteidigungsausgaben in Höhe von zwei Prozent des BIP stehen – nicht jeder einzelne Verbündete ist bei zwei Prozent, aber in der Gesamtheit. Es war Trump, der 2017 den Anschub dafür gab, auch wenn wir natürlich selbst die Notwendigkeit gespürt haben und dann der Angriffskrieg in der Ukraine begann. Er wird wollen, dass wir mehr tun, und er hat recht damit. Wir müssen mehr tun. Wir sind jetzt in Europa bei zwei Prozent, aber in vier bis fünf Jahren haben wir ein Problem mit der Abschreckung, wenn wir nicht mehr ausgeben.

Wenn es um die Frage eines möglichen Kurswechsels in der amerikanischen Ukraine-Politik ging, haben Sie zuletzt vor allzu großer Sorge gewarnt. Warum?

Ich denke, Trump denkt in Bezug auf die Ukraine noch über seine Strategie nach. Mein Argument ihm gegenüber, und allgemein, ist, dass der Konflikt in der Ukraine ein Problem für die USA wird. Wir sehen Russlands Verbindungen zu Nordkorea, dem Iran und China, und durch die Zusammenarbeit dieser vier Akteure wird dieser gesamte Konflikt zu einer Bedrohung für die USA. Nordkorea bekommt Atomtechnologie und Raketentechnologie von Russland, der Iran finanziert mit russischem Geld Stellvertreter im Nahen Osten. Entscheidend wird die Frage sein, wer bei einem möglichen Deal als Gewinner hervorgeht. Ich bin absolut überzeugt, dass Xi Jinping dies genau beobachtet – auch mit Blick auf mögliche eigene Ambitionen in seiner Heimatregion.

Sie sagen zuletzt immer wieder, dass es bei der Unterstützung der Ukraine auch darum gehe, dass Land in die bestmögliche Position für Gespräche mit den Russen zu bringen. Ende Juni richtet ihr Heimatland den ersten Nato-Gipfel nach dem Machtwechsel in den USA aus. Könnte es bis dahin schon einen Waffenstillstand geben?

Ich weiß es nicht. Ich kann nichts ausschließen. Natürlich hoffe ich, dass die Ukraine bald in einer starken Position ist, damit sie Gespräche beginnen kann. Aber es ist unmöglich vorherzusagen, wann das geschehen wird. Wir müssen sicherstellen, dass die Ukraine, die sich derzeit in einer schwierigen Lage befindet, in eine starke Position kommt. Deshalb müssen wir dringend sicherstellen, dass wir zusätzliche militärische Unterstützung für die Ukraine bereitstellen.

Sollte es zu einem ausgehandelten Waffenstillstand kommen, wird wahrscheinlich eine internationale Friedenstruppe benötigt, um die Sicherheit zu gewährleisten. Wie wahrscheinlich ist es, dass in einem solchen Fall Zehntausende Soldaten aus Nato-Staaten in der Ukraine stationiert werden? Würde die Nato eine Rolle spielen?

Ich werde darüber nicht spekulieren. Wir fokussieren uns darauf, dass die Ukrainer eine Verhandlung aus einer Position der Stärke heraus führen können. Nur dann ist ein nachhaltiger Frieden möglich. Je besser das Ergebnis für die Ukraine sein soll, desto besser müssen sie auf dem Schlachtfeld sein. Es liegt in unserer Verantwortung, dafür zu sorgen, dass die Ukraine am Ende ein Ergebnis erzielt, mit dem das Land als souveräne unabhängige Nation überlebt. (dpa/ bearbeitet durch lc)

Über den Gesprächspartner der dpa:

  • Der Niederländer Mark Rutte (57) ist seit dem 1. Oktober Generalsekretär der Nato und in dieser Position vor allem dafür zuständig, die politischen Abstimmungsprozesse zwischen den Alliierten zu koordinieren. Zuvor war der studierte Historiker knapp 14 Jahre Regierungschef der Niederlande, so lange wie bislang kein anderer in seinem Heimatland. Rutte gilt als pragmatisch und bescheiden und ist bekannt dafür, meist sehr gut gelaunt zu wirken.

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