Es ist eine historische Schlappe für die italienischen Sozialdemokraten: Weniger als 20 Prozent der Wähler stimmten für den Partido Democratico (PD), der in etwa Deutschlands SPD entspricht. Die Krise der italienischen Sozialdemokratie ist kein Einzelfall – europaweit verlieren viele Parteien der traditionellen Arbeiterbewegung die Wählergunst.

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1972 holte die SPD bei den Bundestagswahlen 45,85 Prozent der Stimmen, von da an ging's bergab: 2017 schaffte sie noch 20,5 Prozent. Mit diesem Niedergang steht die deutsche Sozialdemokratie nicht alleine da: Am vergangenen Wochenende verlor die italienische Mitte-Links-Partei Partito Democratico (PD) ein Viertel ihrer Wähler.

Auch die sozialistische Partei Frankreichs (PS) hat Probleme: Jahrzehntelang stellte sie regelmäßig den Präsidenten, bei den letzten Wahlen schied ihr Kandidat schon im ersten Wahlgang aus – mit sechs Prozent der Stimmen.

Warum ist die Sozialdemokratie in der Krise? Im Interview mit unserer Redaktion spricht der Politikwissenschaftler Gero Neugebauer von der Freien Universität Berlin über Fehler und Chancen der europäischen Linken.

Herr Neugebauer, müssen wir davon ausgehen, dass die Sozialdemokratie europaweit – salopp gesagt – vor die Hunde geht?

Neugebauer: Noch nicht. Sie hat die Chance, die Kurve zu kriegen. Aber sie muss Antworten finden auf die derzeitigen Krisen. Sie muss sich erinnern, welches ihre Aufgaben sind. Eine davon wäre, eine Alternative zur Austeritätspolitik der Konservativen zu entwickeln.

Sie sprechen von der teilweise rigiden Sparpolitik, die sich in vielen Ländern durchgesetzt hat…

Seit der Finanzkrise 2007/2008 hat die Rechte das Ziel verfolgt, durch strenge Haushaltspolitik ausgeglichene Staatshaushalte anzustreben und die Schulden zu reduzieren. Auf diese Strategie hatte die Linke in Europa keine Antwort.

Sie hat in den verschiedenen Ländern unterschiedlich reagiert – Labour in England anders als die schwedischen Sozialdemokraten, die Niederlande anders als die Dänen und so weiter.
Wo hätten sie ihrer Ansicht nach ansetzen müssen?

Es geht darum, eine linke Antwort zu definieren auf die anstehenden Fragen: Wie gehen wir vor gegen die Veränderungen im Arbeitsprozess, im Produktionsprozess, wie reagieren wir auf den internationalen Verdrängungswettbewerb, wie bewältigen wir die sozialen Konsequenzen der Migration. Und es geht um die Erkenntnis, dass das keine nationalstaatlichen Probleme mehr sind – die Lösungen müssen auf europäischer Ebene gefunden werden.

Warum finden die Sozialdemokraten solche Lösungswege nicht?

Zunächst mal möchte ich eine Ausnahme anführen: Die in Portugal amtierende sozialistische Minderheitsregierung stemmt sich gegen die Austeritätspolitik der EU und hat damit Erfolg.

In Skandinavien und Österreich dagegen laufen die Sozialdemokraten den Rechtspopulisten hinterher, greifen die Argumente der Migrationskritiker auf.

In Frankreich hat der Sozialist François Hollande mit seinen wirtschaftsorientierten Reformen Errungenschaften der Sozialdemokratie gekappt. Alle eint eines: der Niedergang.

Hat dieser Niedergang auch historische Wurzeln?

Der soziale Wandel hat seit dem Zweiten Weltkrieg Schritt für Schritt die großen Klassengegensätze beseitigt. Der Konflikt zwischen Kapital und Arbeit ist zwar noch da – aber die Interessen der Betroffenen sind sehr unterschiedlich.

Die Gesellschaftsstrukturen werden diffuser, es entstehen viele Völkchen im Parteivolk – und die Parteien kommen dieser Entwicklung nicht hinterher.

Gibt es keine übergreifenden Interessen mehr, die die Sozialdemokratie organisieren könnte?

Doch, selbstverständlich gibt es die. Schauen Sie nach Italien: Dort hat die populistische Fünf-Sterne-Bewegung Forderungen im Programm, die den Sozialdemokraten gut anstehen würden.

Grundeinkommen, Mindestlöhne, Maßnahmen gegen die Jugendarbeitslosigkeit… Die Sozialdemokraten müssen soziale Gerechtigkeit und Sicherheit neu zu buchstabieren lernen.

Die Menschen wollen ihren gesellschaftlichen Status sichern, und sie wollen wissen, wie sie ihn verbessern können.

Wo konkret liegen die Versäumnisse der Linken?

Wenn nationale Antworten nicht möglich sind, muss es eine gemeinsame, europäische Antwort geben. Die Globalisierung ist ein internationales Phänomen – da kann man nicht Grenzen hochziehen, Mauern bauen. Aber wo ist die gemeinsame Erzählung der Sozialdemokratie zum Migrationsproblem?

2003 hat die SPD ein Einwanderungsgesetz vorgeschlagen, das ist gescheitert. Gab es eine Kampagne für ein Einwanderungsgesetz? Nein, die gab es nicht! Auch in der letzten GroKo hat die SPD sich das nicht getraut.

Wenn die Sozialdemokratie will, könnte sie verbindliche Mindeststandards formulieren, Lösungsmöglichkeiten für globale Konflikte definieren, die Begleiterscheinungen der Globalisierung regulieren. Und das Ganze muss auf europäischer Ebene stattfinden.

Wenn man nicht über nationale Kriterien hinausfindet, dann findet man keine anderen Lösungen als die Rechtspopulisten.

Die scheinen im Moment überall auf dem Vormarsch zu sein.

Nicht nur in Deutschland kommt jetzt von rechts sogar die Forderung nach einer konservativen Revolution. Das führt zu einer Zuspitzung – aber damit auch zur Chance, sich neu zu profilieren.

Die Sozialdemokratie muss anerkennen, dass die Gestaltungsmacht der nationalen Politik immer geringer wird – und sich deshalb zum Vorreiter für europäische Lösungen machen. Wer überzeugende Alternativen für eine ungezügelte Globalisierung vorweisen kann, hat den Menschen etwas zu bieten.

Die portugiesischen Sozialisten sprechen davon, man müsse ein alternatives Leitbild formulieren – das könnte für die gesamte europäische Sozialdemokratie gelten.

Dr. Gero Neugebauer lehrt im Arbeitsbereich Empirische Politische Soziologie des Otto-Suhr-Instituts für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin. Schwerpunkte seiner Arbeit ist das deutsche Parteiensystem mit Fokus auf SPD und Linkspartei.
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