Die SPD wirkt dieser Tage wie eine geschlagene Beute, die von allen Seiten gnadenlos zerrissen wird. Rechte wie linke Kräfte zerren an dem bisschen Sozialdemokratie, den der politische Wandel in Deutschland noch übrig gelassen hat. Ist zu befürchten, dass die älteste noch existierende Partei Deutschlands ihren finalen Existenzkampf verliert? Eine Spurensuche.
"Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen", hatte dereinst ein angefasster Helmut Schmidt im Wahlkampf 1980 im Interview mit dem "Spiegel" geraunzt.
Rund vier Jahrzehnte später scheint sich das Bonmot der sozialdemokratischen Ikone ins Gegenteil zu verkehren.
Die SPD liegt auf der Intensivstation. Aber nicht, weil sie unter Visionen leidet, sondern an einem Mangel daran. Und ihr Zustand ist äußerst kritisch.
In Bayern wurden die Genossen bei der Landtagswahl gerade erst einstellig marginalisiert. Kein Ausrutscher in dem für die SPD am undankbarsten zu bestellenden Bundesland, sondern ein Trend, der sich seit Jahren bestätigt.
Zwei Schlagworte skizzieren den Niedergang
Wer die Frage nach den Ursachen für den Niedergang der SPD stellt, erhält unweigerlich zwei Antworten: Agenda 2010 und GroKo.
Das eine wird als Verrat an originären sozialdemokratischen Prinzipien verstanden, quasi als Sargnagel für soziale Gerechtigkeit in Deutschland.
Das andere hat zur Folge, was das "Handelsblatt" bereits im Januar 2006 nach nur wenigen Wochen großer Koalition unter
EU-Konjunkturpaket, Atomausstieg, verbesserte Kinderbetreuung, EU-Reformkonzept, Frauenquote, Mindestlohn - Themen aus dem Fundus klassischer SPD-Programmatik. Von Angela Merkel gekapert und in der Öffentlichkeit nonchalant als Unionserfolge verkauft.
Als die Kanzlerin im Bundestagswahlkampf 2013 mit der Mietpreisbremse warb, war dies für die "Süddeutsche Zeitung" in einem Kommentar "wirklich nur noch als Plagiat zu bezeichnen", über das sich die SPD zu Recht empören sollte.
Die Ironie dabei ist, dass Merkel und ihre CDU für diesen Diebstahl von genetischem SPD-Erbgut einen hohen Preis bezahlen.
In den eigenen Reihen raunten scharfe Kritiker wie Josef Schlarmann vom konservativen Wirtschaftsflügel bereits vor Jahren über eine Sozialdemokratisierung der eigenen Partei - mittlerweile geschieht dies längst nicht mehr hinter vorgehaltener Hand.
Merkels Linksruck hat fatale Folgen
Unter Merkel ist die CDU von der rechten Mitte deutlich nach links gerückt, wo sie in klassischem sozialdemokratischem Habitat wildert, der SPD die Themen entzieht und damit die Existenzgrundlage.
Der Plagiatsvorwurf als strategische Konstante in Merkels Politikstil mag nicht falsch sein, richtig ist aber auch, dass es der SPD im Korsett der großen Koalition bislang viel zu selten gelang, die eigenen Erfolge selbstbewusst und für alle wahrnehmbar für sich zu reklamieren.
Schlimmer noch: Geht in der GroKo scheppernd eine Scheibe zu Bruch, war's die SPD. Selbst wenn Sie eigentlich nur unbeteiligt danebenstand.
Wie zuletzt in der Affäre Maaßen, die ihren Ursprung in der Union hatte, am Ende aber in den Reihen der Genossen eskalierte, weil SPD-Chefin Andrea Nahles allzu kopflos agierte.
Die SPD tendiere im Bund dazu, "sich selbst in die Tonne zu treten", stellt Münchens ehemaliger SPD-OB Christian Ude im Politik-Podcast "Steingarts Morning Briefing" fest.
Die sozialdemokratische Funktionärselite habe sich schlichtweg von ihren Wählern entfremdet, ohne dies selbst zu merken, kritisiert Ude den Mangel an Charisma, Charakter- und Durchsetzungsstärke, der bei vielen Genossen die Sehnsucht nach alten Zeiten und großen Namen wie Helmut Schmidt und Willy Brandt weckt.
An dieser Schwachstelle greifen die Grünen nach erfolgreicher personeller wie inhaltlicher Neujustierung die SPD von der linken Mitte aus an.
Grüne bieten neue politische Heimat
Soziale Gerechtigkeit, Klimaschutz und die Frage, warum sich weltweit über 68 Millionen Menschen auf der Flucht befinden, ihre Heimat verlassen auf der Suche nach Sicherheit und einem besseren Leben. Themen, die trotz oder gerade wegen des Erstarkens der AfD gegenwärtig eine Mehrheit der Menschen bewegen.
Die Grünen vermitteln hier eine glaubwürdige Entschlossenheit zum Handeln, während sich die SPD in der GroKo-Falle Mutlosigkeit bis hin zur Selbstaufgabe vorwerfen lassen muss, wie jüngst beim EU-Beschluss zum CO2-Grenzwert oder neuen Waffenlieferungen an Saudi-Arabien.
Auf dem Feld der Sozialpolitik hatte bereits Martin Schulz in seinem Wahlkampfmotto 2017 eine "Zeit für mehr Gerechtigkeit" angemahnt. Allein die Wähler wollten in der SPD nicht mehr die Lösung jener sozialen Probleme erkennen, die die Partei mit der Agenda 2010 maßgeblich selbst zu verantworten hat.
Der politische Bedeutungsverlust lässt sich somit vor allem mit einem Verlust an exklusiver Kernkompetenz begründen und der Frage, weshalb die Wähler ihr Kreuz denn auch weiterhin noch bei der SPD machen sollten.
Man darf gespannt sein, welche Erkenntnisse hier die geplante Strategieklausur Anfang November hervorbringt und ob die jüngste Forderung von Generalsekretär Lars Klingbeil, die SPD müsse in der Koalition nun endlich erkennbarer und mutiger werden, nicht schon zu spät kommt.
SPD muss sich neu erfinden, bevor es zu spät ist
JuSo-Chef Kevin Kühnert hatte die Dringlichkeit schon nach der vergangenen Bundestagswahl erkannt und fordert nun nach der Bayernwahl endlich eine kritische Selbstreflexion, an deren Ende eine sozialdemokratische Selbstfindung stehen sollte, die sich mit einer neuen Programmatik an den politischen Herausforderungen der Gegenwart ausrichtet.
Die dringende Notwendigkeit sieht auch Politik-Experte Werner Weidenfeld im Gespräch mit unserer Redaktion: "Wenn die SPD keine neue Strategie entwickelt und kein neues Zukunftsbild liefert, kann sie sich nicht retten. Dann geht ihr Niedergang weiter."
Sich dem Fluch der große Koalition fluchtartig durch den Notausgang zu entziehen, wäre dabei allerdings nicht nur der erste, sondern auch noch der einfachste Schritt zum Neuanfang.
Denn bislang ist nicht zu erkennen, in welche Richtung, auf welchen Wegen und mit welchem Ziel es für die SPD danach überhaupt weitergehen sollte.
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