Ganz Deutschland wartet auf den Mitgliederentscheid der SPD-Basis zur großen Koalition. Bekommen die Bundesbürger bald eine neue Regierung oder drohen Neuwahlen? Rund 475.000 Parteimitglieder bestimmen nun das politische Schicksal eines Volkes von 80 Millionen Menschen. Was auf den ersten Blick basisdemokratisch wirkt, ist in Wahrheit die gefährliche Entscheidung einiger weniger über viele.

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Die Zahl der SPD-Mitglieder, die über eine neue große Koalition entscheiden, ist in Wahrheit sogar noch kleiner. Die Parteispitze hat das sogenannte Quorum, also die Anzahl von Stimmen, die abgegeben werden müssen, damit die Entscheidung gültig ist, bei nur 20 Prozent festgelegt. Damit reichen schon rund 95.000 abgegebene Stimmen, um ein gültiges Ergebnis zu erhalten. Auch wenn die Parteispitze von zuletzt immer mehr Zustimmung an der Basis berichtet, steht der Ausgang dieses in der bundesrepublikanischen Geschichte einmaligen Experiments völlig in den Sternen.

Egal wie es ausgeht, ich habe ein Problem damit. Denn keines dieser SPD-Mitglieder, die jetzt über eine neue Regierung für Deutschland entscheiden, hat sich am 22. September zur Wahl gestellt. Mir völlig unbekannte Menschen, deren politische Meinungsbildung sich vermutlich mehr am Wohl ihrer Partei als an dem des Landes orientiert, treffen eine Entscheidung, zu der eigentlich alle wahlberechtigten Bundesbürger aufgerufen waren.

Basisdemokratie oder Hinterzimmer?

Nun mag man argumentieren, der SPD-Mitgliederentscheid sei zumindest demokratischer als die Entscheidung der anderen Parteien über den Koalitionsvertrag. Sieht man auf die reine Zahl der an der Abstimmung Beteiligten, stimmt das sogar. Während die CDU immerhin einen kleinen Parteitag, den so genannten Bundesausschuss mit rund 200 Mitgliedern einberuft, stimmen bei der CSU nur der Vorstand und die CSU-Landesgruppe im Bundestag über den Koalitionsvertrag ab. Das ist es wohl, das oft beklagte politische Hinterzimmer, in dem immer wieder für den Wähler schwer nachvollziehbare und seinem direkten Willen nur selten entsprechende Beschlüsse gefasst werden.

Trotzdem: Mir ist das Hinterzimmer lieber. Hier entscheiden politische Profis, von denen viele direkt in den Bundestag gewählt wurden und an den Verhandlungen beteiligt waren. Im Falle der CSU-Landesgruppe sind es sogar ausschließlich Abgeordnete, die vom bayerischen Volk gewählt wurden. Glaubt man an die parlamentarische und repräsentative Demokratie, so kann einem das nur lieber sein, als die unberechenbare Entscheidung einer Parteibasis, die selbst die SPD-Spitze in einer Runde von Regionalkonferenzen erst kennenlernen und überzeugen muss.

32 dieser Konferenzen hat die SPD anberaumt und kann sich des Ergebnisses des Mitgliedervotums trotzdem nicht sicher sein. Wirft man einen Blick auf Mitgliederstruktur der SPD, will man vielleicht sogar noch weniger, dass diese Parteibasis über eine mögliche große Koalition entscheidet.

Demokratie der alten Männer ohne Internet

Wer heute eine Veranstaltung der SPD besucht, fühlt sich unweigerlich in eine Zeit zurückversetzt, als die großen politischen Themen die neue Ost-Politik von Willy Brandt oder der Nato-Doppelbeschluss von Helmut Schmidt waren. Nur sitzen leider immer noch die gleichen Leute im Raum, die sich damals die Köpfe heiß geredet haben - und Frauen sind noch mehr Mangelware als in den 1980er Jahren. Diese Generation Grau wird nur selten von Jungsozialisten gesprenkelt, oft noch im Schüleralter. Nur ein Viertel der Mitglieder ist unter 50 Jahre alt, das Durchschnittsalter liegt bei über 60. Die SPD ist alt geworden, gemeinsam mit ihren Mitgliedern.

Moderne Kommunikationsmittel oder gar Internet? Fehlanzeige in den meisten Fällen. Kaum zu glauben, dass ein Land wie Deutschland zwei Wochen weiteren politischen Stillstands erdulden muss, weil die SPD nicht die E-Mail-Adressen aller ihrer Mitglieder kennt. Oder liegt es gar daran, dass viele der Genossen noch nie im Internet waren? Jedenfalls muss die SPD die Unterlagen zum Mitgliedervotum samt Ausdruck des Koalitionsvertrages mühsam per Post verschicken und eine aufwändige Briefwahl organisieren. Da war sogar die Piratenpartei besser organisiert.

Das typische SPD-Mitglied von heute ist über 60 Jahre alt, männlich, wurde in einer unendlich lang zurückliegenden Zeit politisch geprägt und hat eher selten einen Internet-Anschluss. Genau hier wird die Entscheidung der SPD-Basis für mich gefährlich: Letztlich entscheiden alte Männer, deren Lebensrealität mit der der meisten jüngeren berufstätigen Bundesbürger fast nichts mehr gemein hat, über das politische Schicksal unseres Landes. Bevor ich meine Zukunft in deren Hände lege, dann doch lieber in die der in langen Kämpfen gestählten Profis aus den politischen Hinterzimmern.

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