Ohne Dienstpflicht geht es nicht: Zumindest wenn man Johannes Arlt danach fragt, wie die Bundeswehr wieder zu neuer Stärke findet. Der SPD-Politiker ist selbst Soldat. Trotzdem findet er die Idee, die Truppe für eine EU-Armee aufzulösen, gut. Im Interview erklärt er, weshalb und warum er diese Vision vermutlich nie erleben wird.
Sicherheitspolitik und die Bundeswehr – in Deutschland waren das lange keine Themen, über die man auf breiter Front diskutierte. Doch seit Russlands Überfall auf die Ukraine ist klar geworden, welch große Mängel die Bundesrepublik bei ihrer Verteidigungsfähigkeit hat.
Auch Johannes Arlt findet: Die Bundeswehr wieder einsatzfähig zu machen, ist eine gewaltige und drängende Aufgabe. Als Berufsoffizier bei der Luftwaffe kennt der SPD-Abgeordnete die Missstände bei der Truppe aus eigener Erfahrung. Ein Gespräch darüber, warum ein ehemaliger Wehrdienstgegner eine Dienstpflicht fordert, warum der Einfluss Europas auf der politischen Weltbühne künftig abnehmen könnte und wie eine EU-Armee dagegen helfen würde.
Herr Arlt, bei der Bundeswehr werden Disziplin und Teamwork großgeschrieben. So oft, wie es in der Ampel kracht, könnte man fast meinen, den Kabinettsmitgliedern könnte eine Grundausbildung nicht schaden.
Als Soldat hat man die Pflicht zur Kameradschaft. Das heißt: Füreinander auch in der Not einzustehen, auch wenn man dadurch selbst einen Nachteil erleidet. Nun ist die Demokratie, beziehungsweise die Politik, kein Kasernenhof. Wenn man aber den Geist der Kameradschaft im politischen Tagesgeschäft miteinander beherzigt, dann macht man sicherlich nichts falsch.
Sie hatten ursprünglich nie vor, zur Bundeswehr zu gehen. Was hat Sie überzeugt, sich dort eine Karriere aufzubauen?
Stimmt, ich war gegen den Wehrdienst und habe mich sogar bei Kriegsdienstgegnern engagiert. Mein Vater hat mich dann überredet, zur Armee zu gehen. Ursprünglich bin ich mit dem klaren Ziel hin, dort nicht eine Sekunde länger als die neun Monate Grundwehrdienst zu verbringen. Inzwischen bin ich rund 20 Jahre bei der Bundeswehr aktiv. Inspiriert zu bleiben, haben mich meine Vorgesetzten. Vom ersten Tag an habe ich Menschen getroffen, zu denen ich aufsehen konnte. Weil sie Führung und Werte gelebt und von ihren Untergeben nur gefordert haben, wofür sie selbst einstanden.
Bei der Bundeswehr zu dienen, können sich heute nur noch wenige vorstellen. Was kann die Truppe tun, um ihre Personalprobleme in den Griff zu bekommen?
Wir brauchen eine Dienstpflicht. Sie muss aber - und das zeigt das schwedische Modell- mit einer klaren und ehrlichen Zielsetzung verknüpft werden. Also der Beantwortung der Frage: Was will ich damit erreichen?
Die Dienstpflicht gilt vielen Politikern als Ultima Ratio.
Jeder Betrieb, den ich besuche, klagt über Personalmangel und das wird sich noch verschärfen. In den nächsten sechs bis sieben Jahren gehen 13 Millionen Menschen in Ruhestand. Personal wird insgesamt weniger. Wie soll der Bund als Arbeitgeber viele andere Marktakteure ausstechen?
Das klingt, als würde es sich der Bund leicht machen, anstatt die Bundeswehr auf Vordermann zu bringen.
Natürlich würden Maßnahmen, die Bundeswehr attraktiver zu machen, nicht ins Leere laufen. Wir können jede Menge Prozesse straffen. Kurzfristig muss die Bundeswehr auch die Maßnahmen umsetzen, die von der Taskforce Personal erarbeitet wurden, um ein noch attraktiverer Dienstherr zu werden.
Aber?
Die Truppe hat derzeit etwa 180.000 Soldatinnen und Soldaten. Und sie kämpft jetzt und in Zukunft schon darum, diese Stärke auch nur zu halten. Allein bei der geplanten Stärke müssten sich ungefähr 10 Prozent eines jedes Jahrgangs bei der Bundeswehr bewerben, damit wir die nötige Stärke erreichen könnten. Durch attraktivere Arbeitsbedingungen allein lässt sich Aufwuchs bei der Truppe das bewerkstelligen.
Die Dienstpflicht als Ausweg dürfte insbesondere die jüngere Generation unfair finden.
Ich habe jede Woche mindestens eine Schulklasse aus meinem Wahlkreis zu Besuch in Berlin. Jede davon frage ich, ob sie sich ein Jahr Dienst für ihr Land nach der Schule vorstellen könnte. Regelmäßig entscheidet sich die Mehrheit der Schülerinnen und Schüler für eine solche Dienstpflicht.
Eine Schulklasse ist nicht unbedingt der Gradmesser für die Akzeptanz einer politischen Maßnahme in der Gesellschaft. Noch dazu dürfte vielen Schülern die Tragweite solch einer Entscheidung nicht klar sein.
Damit sprechen Sie den Schülern die Mündigkeit ab. Und wen soll ich denn sonst fragen? Die 30-Jährigen, die es wahrscheinlich nicht betreffen wird? Auch in jeder Umfrage befinden sich in der Gesamtbevölkerung die Dienstpflicht-Befürworter in der Mehrheit. Bei den Wählern nahezu jeder Partei. Ich möchte auch kurz festhalten, dass Dienstpflicht nicht Wehrpflicht heißt. Nicht jeder muss zur Bundeswehr.
Sondern?
In der Diskussion wird vergessen, dass die Gesamtverteidigung unseres Landes zu ungefähr 35 Prozent aus der militärischen, aber zu 65 Prozent aus der zivilen Verteidigung besteht. Auch jemand, der einen Dienst im Krankenhaus ableistet, trägt also zur Verteidigung Deutschlands bei.
Eine andere Möglichkeit, die Verteidigungsfähigkeit Deutschlands zu stärken, wäre auch der Aufbau einer EU-Armee. Sie befürworten diese Idee. Warum?
Wir haben in Europa riesige Verteidigungsinvestitionen. Deren Effizienz, also was der Steuerzahler pro ausgegebenen Euro bekommt, ist aber sehr gering. Wir haben 27 Verteidigungsindustrien, 27 Einkaufsbürokratien, und obwohl die meisten Länder in der EU Nato-Mitglieder sind, beschafft jedes davon im Wesentlich nur für sich. Viel besser wäre es, wenn man die Fähigkeiten der Länder nutzt und sich die militärischen Aufgaben teilen würde. Vor allen Dingen müssen wir Ausrüstung gemeinsam einkaufen. Sonst lässt sich nicht sicherstellen, dass in den Streitkräften Interoperabilität gestärkt wird.
Wie müsste so eine europäische Armee aussehen?
Kurzfristig müssten wir verabreden: Was erledigt welche Nation? Also wie kommen wir zu mehr Spezialisierung und Zusammenarbeit bei der Verteidigung Europas? Sehr langfristig halte ich die radikalste Lösung für die beste Variante. Also die Auflösung der Nationalarmeen, die dann in einer großen europäischen Armee zusammengefasst werden. Nur dann sprechen wir als Europa mit einer Stimme und werden als Akteur perspektivisch weiter wahrgenommen.
Für Deutschland hieße das unter anderem, dass das Grundgesetz geändert werden müsste. Das schließt nämlich bislang aus, dass eine Institution ohne Zustimmung des Bundestags Einsatzentscheidungen für die Bundeswehr treffen kann.
Das ist eine Detailfrage, die über die Zeit sicher gelöst werden könnte. Denn kurz- und mittelfristig ist eine EU-Armee ohnehin nicht realistisch. Wir reden hier über einen Zeitraum von 50 bis 80 Jahren, bis diese aufgebaut werden könnte. Das werden Sie und ich vermutlich nicht einmal mehr erleben. Außerdem gibt es da noch ganz andere Fragen, die man diskutieren müsste.
Zum Beispiel?
Wie wir eine EU-Armee und ihre Streitkräfte tatsächlich einsetzen würden. Bei der Bundeswehr beschließt etwa der Bundestag, ob Soldaten außerhalb von Europa entsendet werden. Aber wer würde das auf europäischer Ebene entscheiden? Wenn man dafür einen einstimmigen Beschluss bräuchte, würden vermutlich niemals bis sehr selten Soldaten der EU-Armee entsendet oder eingesetzt werden.
Bleibt eine Entscheidung per Mehrheit.
Das hieße aber, dass auch Entscheidungen an Deutschland vorbei getroffen werden könnten und man Truppen entsendet, auch wenn das unserer Gesellschaft nicht gefällt. Das wäre der Preis, den man für eine handlungsfähige EU-Armee zahlen müsste.
Viele Bürgerinnen und Bürger finden schon jetzt: Deutschland gibt zu viele Kompetenzen an die EU ab. Da erscheint eine Zustimmung der Bevölkerung zu Ihrem Szenario utopisch.
Ich gebe zu, meine politische Vision ist sehr europafreundlich. Deutschland hat im Vergleich zu anderen Ländern eine abweichende Vorstellung vom Einsatz von Streitkräften. Wir haben zum Beispiel ein sehr demokratisches Soldatenbild. Der Soldat ist ein Staatsbürger in Uniform, er hat die gleichen Rechte wie jeder andere – kann sich zum Beispiel politisch engagieren. In anderen Ländern, Frankreich etwa, kann ein Soldat nicht einmal Mitglied einer Partei sein.
Wenn die Hürden so groß sind und der Aufbau so lange dauert: Warum sollten wir dann überhaupt über eine EU-Armee nachdenken?
Weil der geopolitische Einfluss Europas abnehmen wird. Unsere Bevölkerungsanzahl sinkt, während sie auf anderen Kontinenten steigt. Deshalb muss man schon heute überlegen, wie wir unseren Einfluss in der Welt in Zukunft festigen könnten.
Zuletzt ist auch eine Debatte über die Notwendigkeit von EU-Atomwaffen ausgebrochen. Sind Sie dafür ebenso offen, wie für eine EU-Armee?
Wir organisieren unsere nukleare Teilhabe im Rahmen der NATO. Dennoch müssen wir diese Debatte führen, auch wenn sich die Frage kurzfristig nicht stellt. Wir müssen aber grundsätzlich wieder lernen, solche strategischen Fragen zu diskutieren.
Katarina Barley hat genau das versucht und wollte eine Debatte über eine EU-Atomwaffenstrategie anstoßen. Dafür hat sie Kritik auf breiter Front bezogen, auch vom Kanzler. Haben Sie dafür Verständnis?
Nuklearwaffen sind eine Angelegenheit, die man nicht einfach nebenbei verhandelt. Das hat weitreichende völkerrechtliche Konsequenzen. Da geht es um jahrzehntelange Programme, Investitionen und Vorbereitungen. Ohne Not, und ohne die Konsequenzen abgewogen zu haben, sollte man eine solche Debatte nicht starten. Wir sind aktuell voll damit ausgelastet, die Bundeswehr wieder einsatzfähig, sie kriegstüchtig zu machen und unsere Verteidigungspflichten erfüllen zu können.
Über den Gesprächspartner:
- Johannes Arlt wurde 1984 in Berlin geboren. 2003 absolvierte er seine Grundausbildung bei der Bundeswehr. Im Anschluss entschied er sich für eine Karriere bei der Truppe und ist inzwischen Berufsoffizier der Luftwaffe. Zudem studierte er Staatswissenschaften in München und Rechtswissenschaften in Wien. Politisch engagiert er sich seit seinem 16 Lebensjahr für die SPD, für die er 2021 per Direktmandat in den Bundestag einzog.
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