Politiker werden heutzutage immer häufiger bedroht - das ist kein gefühltes Phänomen, sondern bittere Realität. Ein Experte befürchtet, dass Gewalttaten gegen Politiker künftig zunehmen werden. Ein Historiker erkennt sogar eine "vorrevolutionäre Unruhe" im Land.
Da waren sie wieder die Rufe, die fatal an das Deutschland der 30er-Jahre erinnerten. "Volksverräter" und "Hau ab" grölten Sprechchöre im ostsächsischen Sebnitz angesichts eines Besuchs von Bundespräsident
Laut Polizei-Bericht wurde der Bundespräsident von etwa 30 Menschen "verbal attackiert". Dabei wurde offenbar auch Reizgas eingesetzt. Die tumultartigen Szenen angesichts eines Politikerbesuchs sind kein Einzelfall im Deutschland der Gegenwart. Im Gegenteil.
Herrschen in Deutschland Weimarer Verhältnisse?
Von einer "quasi-revolutionären Unruhe" im Land spricht der Historiker Paul Nolte, der nicht dafür bekannt ist, den Teufel an die Wand zu malen. Was die Dramatik der Entwicklung angeht, müsse man weiter "zurückblicken als in die 80er-Jahre, nämlich in die Weimarer Republik der 20er- und frühen 30er-Jahre", sagte Nolte in der "Süddeutschen Zeitung".
Die Spätphase der Weimarer Republik, das war jene Periode, in der der Hass auf Andersdenkende in Deutschland zum Alltag wurde. Politische Morde und Gewalt waren nur die Vorboten des Untergangs der Demokratie.
Richtig ist, dass die Zunahme der Drohungen und Gewalttaten gegen Politiker nicht nur ein gefühltes Phänomen ist. Politiker leben heute tatsächlich gefährlicher als noch vor zehn Jahren, auch wenn es zum Glück in Deutschland noch keinen politischen Mord gab, sondern nur Versuche.
Wie die Messer-Attacke auf die heutige Kölner Oberbürgermeisterin im vergangenen Jahr: Ein rechtsextremistischer Täter verletzte Henriette Reker mit einem Messer während einer Wahlkampfveranstaltung schwer, die Politikerin überlebte nur knapp.
BKA befürchtet Zunahme der Gewalt
Vor allem im Zusammenhang mit der Debatte über die Flüchtlingskrise ist es zu einem messbaren Anstieg der Gewalt gegen Politiker gekommen. 115 Straftaten gegen Amts- und Würdenträger zählte das Bundeskriminalamt in diesem Zusammenhang alleine im ersten Vierteljahr 2016, mehr als eine pro Tag.
Und die Welle der Gewalt reißt nicht ab. Ende Juni war die Zählung bereits bei 202 Taten angekommen. Für die Zukunft befürchten die Experten des BKA laut einem Bericht des "Spiegel" eine weitere Intensivierung der rechten Gewalt, "wobei in Einzelfällen auch mit Tötungsdelikten zu rechnen" sei.
Die Vorboten der Gewalt finden sich in einer brutalen Rhetorik und Symbolik, die im vergangenen Jahr auf vielen politischen Veranstaltungen zu beobachten war. Da wurden auf einer Pegida-Demonstration in Dresden zwei Galgen über den Platz getragen, an denen zwei deutlich lesbare Schilder baumelten: "Reserviert für Siegmar 'das Pack' Gabriel" stand auf dem einem, "Reserviert
Pegida-Initiator Lutz Bachmann spricht sich zwar heute gegen "jede Art von Radikalismus aus", hatte sich aber in der Vergangenheit bereits ganz anders geäußert.
Spitzenpolitiker berichtet von Morddrohungen
Den damaligen Linken-Fraktionschef Gregor Gysi bezeichnete er via Twitter als "Stasischwein". Politiker der Grünen denunzierte er als "Öko Terroristen", die "standrechtlich erschossen" gehörten, "allen voran Claudia Fatima Roth". Im Spiegel berichtet ein Spitzenpolitiker, der lieber anonym bleiben will, von Morddrohungen, die auch seine Kinder betreffen.
Der AfD-Fraktionschef im Thüringer Landtag, Björn Höcke, fordert auf Marktplätzen öffentlich, Angela Merkel "müsse in einer Zwangsjacke aus dem Kanzleramt abgeführt werden". Unter den Eindruck von Parolen wie "Lügenpresse" und "Volksverräter" ist für viele Menschen ganz offensichtlich der Eindruck entstanden, der Staat und die ihn repräsentierenden Politiker seien ihre Feinde.
Die These, Deutschland sei ein Unrechtsstaat, kann man auch so verstehen, dass man sich gegen dessen Repräsentanten mit allen Mitteln zur Wehr setzen darf. Und von einem "Unrechtsstaat" sprachen in jüngster Vergangenheit nicht nur AfD oder Pegida-Anhänger, sondern auch der CSU-Parteichef Horst Seehofer - seine Äußerungen konnten durchaus als eine Bestätigung der Pegida-Parolen gewertet werden.
Fanatismus, psychische Veränderung und Gruppenglaube
Aus solch einer Stimmung könnten Einzeltäter hervorgehen, welche die rhetorische Gewalt in reale Bluttaten verwandeln. Dieses Phänomen erklärt der Politik- und Gesellschaftspsychologe Thomas Kliche in einem Interview mit dem "Berliner Tagesspiegel": "Politiker werden zum Gefühlscontainer, sie dienen zur Entsorgung unangenehmer Gefühle, sie dürfen verachtet oder gehasst werden." Das würden auch psychisch veränderte Menschen spüren.
Gewalttäter wie der Attentäter von Köln handelten meist aus einer Mischung aus Fanatismus, psychischer Veränderung und Gruppenglauben. "Sie leben oft in einer Scheinwelt voll klarer Feinbilder und in dem wahnhaften Glauben, viele wären auf ihrer Seite", sagte Kliche.
Dieser Glaube habe auch etwas mit einer "sozialen Verstärkung" und dem Milieu zu tun, in dem sich ein potentieller Attentäter aufhalte. Wenn sich jemand zum Beispiel nur in rechtsextremen Kreisen bewege, könne er irgendwann die dort skandierten Parolen für die Wahrheit halten. Andere Informationen würden zu manchen Menschen nicht mehr durchdringen.
Sektenhaftes Wahnbild der Welt
Die Marktplätze, auf denen die Galgen aus Pappe noch als Symbole fungieren, könnten so zur Brutstätte von späteren Morden werden.
In diesem Zusammenhang sei auch das Internet eine Gefahr, betont Kliche. Es sei leicht, "sich auf immer gleichen Websites im Kreis zu drehen und immer neue Bestätigung für ein sektenhaftes Wahnbild der Welt zu holen".
Ein Wahnbild, dass sich vielleicht später in realen Taten manifestieren kann.
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