Große Teile von Haitis Hauptstadt Port-au-Prince werden von Gangs kontrolliert. Diese scheinen sich nun verbündet zu haben, um den ins Ausland geflüchteten Premierminister Ariel Henry von einer Rückkehr abzuhalten. Die EU hat derweil ihr gesamtes ausländisches Personal aus dem Karibikstaat abgezogen.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Lukas Weyell sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Ariel Henry gibt klein bei. Am Dienstag kündigte Haitis Premier seinen Rücktritt an. Haiti brauche Frieden und Stabilität, sagte er in einer in der Nacht auf Dienstag (Ortszeit) veröffentlichten Videobotschaft.

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Im nächsten Schritt soll ein siebenköpfiger Präsidialrat gegründet werden. Dieser soll einen Übergang hin zu Wahlen gewährleisten und einen neuen Interims-Premierminister bestimmen, wie Guyanas Präsident Mohamed Irfaan Ali kurz zuvor nach einem Treffen der Regierungschefs karibischer Staaten in Jamaika mitgeteilt hatte. Sobald das geschehen sei, lege er das Amt nieder, sagte Henry.

Kriminelle Banden, die große Teile des Landes und der Hauptstadt unter ihrer Kontrolle haben, hatten zuvor Henrys Rücktritt gefordert. "Wir als Vereinigung aller haitianischen Banden kämpfen darum, Premierminister Ariel Henry und das bestehende System so schnell wie möglich zu stürzen", sagte der Bandenchef Jimmy Cheriziér in einem Interview mit dem haitianischen Fernsehen. Es gehe darum, "das Land zu bekommen, das wir wollen - ein Haiti mit Arbeit für alle, mit Sicherheit, mit kostenloser Bildung, ein Haiti ohne soziale Diskriminierung".

Der Bandenboss mit Spitznamen "Barbecue" (wegen seiner angeblichen Vorliebe dafür, Gegner lebend zu verbrennen) hat allerdings nicht wirklich das Wohl des Volkes im Blick. Er drohte mit einer Eskalation der Gewalt, wenn nicht auf seine Forderung reagiert wird: "Wenn Ariel Henry nicht zurücktritt, wenn die internationale Gemeinschaft ihn weiterhin unterstützt, wird sie uns direkt in einen Bürgerkrieg führen, der in einem Völkermord enden wird."

Bandengebiete in Port-au-Prince und Lage der deutschen Botschaft. © AFP

Hilfsorganisationen berichten von angespannter Situation vor Ort

Schon jetzt ist die Situation in Haiti besorgniserregend. Auseinandersetzungen zwischen den Banden und Regierungskräften kosten zahlreiche Menschen das Leben. Laut den Vereinten Nationen kontrollieren kriminelle Banden inzwischen etwa 80 Prozent der Hauptstadt Port-au-Prince.

Das Gesundheitssystem steht kurz vor dem Zusammenbruch. Nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration fehlt es an Nahrung, Wasser und Gesundheitsversorgung. Rund 15.000 Menschen hätten ihr Zuhause verlassen müssen. Damit seien insgesamt 362.000 Haitianer innerhalb des Landes vertrieben, mehr als die Hälfte davon Kinder.

Auch Hilfsorganisationen können nur eingeschränkt arbeiten. "Die derzeitigen Spannungen haben Ärzte ohne Grenzen dazu veranlasst, die mobilen Kliniken an mehreren Standorten vorübergehend auszusetzen", teilte die Hilfsorganisation mit.

Die Europäische Union hat inzwischen ihr gesamtes diplomatisches Personal aus Haiti evakuiert. Auch das US-Militär flog nicht unbedingt benötigtes Botschaftspersonal der USA aus. Am Sonntag hatten der deutsche Botschafter in Haiti sowie der Ständige Vertreter das Land bereits Richtung Dominikanische Republik verlassen. Sie seien aufgrund der "sehr zugespitzten und unberechenbaren Sicherheitslage" ausgereist und arbeiteten bis auf Weiteres von dort aus, teilte ein Sprecher des Auswärtigen Amts mit.

Wieso eskaliert die Gewalt in Haiti?

Seit Tagen greifen bewaffnete Banden Polizeistationen, Gefängnisse und Gerichte an. Der jüngste Gewaltausbruch begann, nachdem Henry Anfang März für eine Auslandsreise das Land verlassen hatte.

Der Premier ist äußerst unbeliebt in der Bevölkerung. Eigentlich sollte er bereits im Februar aus dem Amt scheiden, weigerte sich jedoch und vereinbarte mit der Opposition, noch zwölf Monate länger im Amt zu bleiben und gemeinsam zu regieren, bis es 2025 Neuwahlen geben soll.

Zwei der wichtigsten bewaffneten Gangs, darunter auch jene von "Barbecue", haben sich nun zusammengeschlossen und den wichtigsten Flughafen des Landes belagert, um die Rückkehr des Regierungschefs zu verhindern.

Haiti ist seit Jahren in einer Krise

2021 wurde der damalige Präsident Jovenel Moïse im Schlaf von Unbekannten erschossen. Moïse hatte Henry keine 36 Stunden vor seinem Tod zum siebten Premierminister seiner Amtszeit erkoren. Allerdings konnte Henry das Amt vor dem Attentat nicht mehr antreten. Mithilfe der USA und Unterstützung durch US-Präsident Joe Biden wurde er stattdessen Interimspremier.

Wahlen wurden seither mit Verweis auf die Sicherheitslage mehrfach verschoben und bis heute nicht nachgeholt. Der Karibikstaat mit rund elf Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern hat deshalb aktuell weder einen Präsidenten noch ein Parlament.

Die Unterstützung durch die USA war von Beginn an ein Kritikpunkt, den die Bevölkerung gegen Henry vorbrachte. Die USA hatten das Land von 1915 bis 1934 besetzt und werden auch heute noch wegen ihrer aggressiven Außenpolitik in Lateinamerika in dem Karibikstaat kritisch gesehen.

Das Land erlebt seit Jahrzehnten immer wieder Unruhen wegen Korruption und Bandenkriminalität. Seit 2018 ist es praktisch durchgehend in der Krise - unter anderem, weil die steigenden Preise für Benzin, Diesel und Kerosin für die Bevölkerung unbezahlbar wurden. Dadurch kam es zu Protesten und gewaltvollen Auseinandersetzungen, in deren Zuge auch der damalige Präsident Moïse getötet wurde.

Was kann die internationale Staatengemeinschaft für Haiti tun?

Der UN-Sicherheitsrat rief die politischen Vertreter des Karibikstaats am Montag zu Verhandlungen über Neuwahlen auf. Ziel müsse es sein, die "demokratischen Institutionen" im Land wiederherzustellen, teilte das höchste UN-Gremium mit. Es rief die bewaffneten Banden auf, "ihre destabilisierenden Aktionen sofort einzustellen".

In der Vergangenheit wurden immer wieder internationale Friedensmissionen nach Haiti entsandt. 2004 kam es mit Billigung des UN-Sicherheitsrates zu einem Einsatz von Blauhelmen im Rahmen einer militärischen Intervention. Zuletzt plante man eine Polizeimission. Die Vereinten Nationen hatten sich dafür ausgesprochen.

Kenia erklärte sich bereit, die Führung zu übernehmen und 1.000 Polizisten zur Verfügung zu stellen. Unter anderem wegen Finanzierungsproblemen kam die Mission bisher nicht zustande. Ministerpräsident Henry war unter anderem wegen der geplanten Mission auf seiner Auslandsreise, als die Unruhen anfingen.

Der Haiti-Experte Diego Da Rin von der International Crisis Group, sagte der "Frankfurter Rundschau", der Grund für die Unruhen liege auch darin, dass die Gangs mit ihrer Gewalt Kenia und andere Länder abschrecken wollten und "so verhindern, dass die geplante UN-gestützte internationale Polizeitruppe aufgestellt wird. Sie hätten viel zu verlieren, wenn die Polizeimission wirklich kommt."

Seiner Ansicht nach ist es aktuell schwer abzusehen, ob der Konflikt beruhigt werden kann: "Sollte Premier Henry nicht nach Haiti zurückgehen und sich stattdessen für einen Rücktritt entscheiden, muss es eine sehr gute Koordinierung zwischen dieser Ankündigung und einer neuen Übergangsregierung geben. Sonst besteht die Gefahr, dass dieses Vakuum von politischen Akteuren dafür genutzt wird, sich mit den Gangs zu verbünden und eine Art De-facto-Regierung zu schaffen."

Verwendete Quellen

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