- Der Gegensatz zwischen Stadt und Land spielt nicht nur im Alltag, sondern auch in der Politik eine große Rolle.
- Dass die Bundesregierung ihren Sitz in der größten Stadt des Landes hat, prägt ihre Handlungen, sagt der Politikwissenschaftler Lukas Haffert.
- Er gibt zudem zu bedenken, dass unsere Debatten von so manchem Irrtum geprägt seien.
Die Diskussionen um das sogenannte Entlastungspaket der Bundesregierung zeigten zuletzt einmal mehr die Aktualität des Themas: Was bringt ein 9-Euro-Ticket für den Nahverkehr, wenn der Bus auf dem Land nur zweimal am Tag fährt? Ist ein Tankrabatt in Zeiten der Klimakrise wirklich angebracht, wenn fast 80 Prozent der Deutschen in Städten leben, wo man oft kein Auto braucht? Die sogenannten gleichwertigen Lebensverhältnisse sind schon lange ein Anliegen der Bundespolitik und stehen nicht nur im Grundgesetz, sondern ebenso im Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP. Sie seien "die Basis für Vertrauen in unsere Demokratie und halten unser Land zusammen", heißt es dort in einem drei Seiten langen Unterkapitel mit der Überschrift "Gute Lebensverhältnisse in Stadt und Land".
Von diesen ist die Bundesrepublik aber weiterhin weit entfernt. Von mangelhaften Verkehrs- und Internetverbindungen auf dem Land bis zu hohen Mieten und Feinstaubwerten in der Stadt: Bei zentralen Problemen geht es seit Jahren nicht ausreichend voran, egal wie häufig entsprechende Pläne in Wahlprogrammen stehen. Dabei ist die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse laut Bundesregierung ein "übergeordnetes Ziel von großer politischer Bedeutung". Die große Koalition aus Union und SPD setzte 2018 sogar eine eigene Kommission zum Thema ein, deren Vorschläge in zwölf Maßnahmen resultierten. Mit einem "Gleichwertigkeits-Check" soll etwa bei Gesetzesvorhaben überprüft werden, "welche Wirkungen sie auf die Wahrung und Förderung gleichwertiger Lebensverhältnisse (...) haben". Laut Innenministerium ist die Hälfte bereits abgeschlossen, darunter "Städtebauförderung und sozialen Wohnungsbau voranbringen" sowie "Dörfer und ländliche Räume stärken" - die Realität sieht vielerorts freilich anders aus.
Ziel: "Gleichwertige Lebensverhältnisse" in Stadt und Land
Der Gegensatz zwischen Stadt und Land ist einem neu erschienenen Buch zufolge "eine der wirkmächtigsten politischen Konfliktlinien unserer Zeit". Der Politik- und Wirtschaftswissenschaftler Lukas Haffert beschreibt darin, "dass Stadt-Land-Konflikte immer dann besonders scharf werden, wenn sich ökonomische Struktur und Lebensstile in großen Städten besonders stark von denen auf dem Land unterscheiden". Dafür sei es im Einzelnen gar nicht nötig, dass jeder Mensch konkret die gleichen Erfahrungen mache, sagt er im Gespräch mit unserer Redaktion: "Selbst wenn ich kein Auto habe, aber auf dem Land wohne, nehme ich das als Problem wahr, weil meine Nachbarn mir sagen: Das ist ein wichtiges Thema." Die politische Haltung hänge also nicht nur von der jeweiligen Person ab, sondern auch stark vom sozialen und geografischen Umfeld.
Diese "lokalen Identitäten" würden Parteien als Mobilisierungsinstrument nutzen wollen, so Haffert, der an der Universität Zürich forscht und lehrt. Als die Ampelregierung sich anbahnte, bezeichnete sie der damalige Unionsfraktionsvorsitzende Ralph Brinkhaus beispielsweise als "Großstadt-Koalition", bei der das "Leben im ländlichen Raum nicht mehr stattfinden" werde. Solche Entwicklungen beobachtet der Wissenschaftler nicht nur hierzulande, sondern auch international. Als Beispiel nennt er die Konkurrentin von Emmanuel Macron bei der Präsidentschaftswahl im Nachbarland: "Le Pen tritt seit vielen Jahren als die Vertreterin des 'bodenständigen und heimatverbundenen Frankreich' auf. Ich denke, es spricht einiges dafür, dass einige Parteien auch in Deutschland das in Zukunft verstärkt versuchen werden."
Vorwurf: Ampelregierung als "Großstadt-Koalition"
Als zwei besonders ausgeprägte Pole sieht er hierbei die AfD auf der einen und die Grünen auf der anderen Seite, wobei es bei Stadt-Land-Vorurteilen aufzupassen gelte: "Der wesentliche Irrtum ist die Gleichsetzung von Landbewohner und AfD-Wähler." Auch dass immer mehr Menschen in die Metropolen ziehen, gilt schon länger nicht mehr. Stattdessen gibt es einen Trend zur sogenannten Suburbanisierung, bei der es Menschen verstärkt in Vororte und ländliche Regionen im Umfeld von großen Städten zieht. Im Zusammenhang mit der Pandemie war zudem teilweise von "Stadtflucht" als Parallele zur bekannten "Landflucht" die Rede, wobei man sich das leisten können muss. Festzuhalten ist zudem, dass "auch schon vor Corona (...) die steigenden Mieten und Wohnkosten Wegzüge ins engere und weitere Umland" beförderten und weiteren Zuzug verhinderten, wie das Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung 2021 in einer Analyse schrieb.
Es gibt noch eine Behauptung, die in Debatten über regionale Ungleichheiten immer wieder auftaucht und sich im CDU-Vorwurf der "Großstadtkoalition" widerspiegelte: "Die in Berlin" würden sich einfach nicht für ländliche Regionen interessieren. Politikwissenschaftler Haffert betrachtet das etwas differenzierter: "Es ist beinahe zwangsläufig, dass vor allem großstädtische Perspektiven die Arbeit der politischen Akteure bestimmen, wenn man aus der größten Stadt eines Landes regiert wird." Das sei kein böser Wille, sondern Folge der gegebenen Strukturen, weshalb er nicht sagen würde, "dass die Abgeordneten sich nicht ehrlich darum bemühen, die gesamte Bevölkerung zu repräsentieren."
Dialogprojekte: Landwirtschaft trifft Gesellschaft
Trotzdem prägt der Konflikt zwischen "urbanen Zentren" und "Peripherie" ihm zufolge die politische Landschaft und werde in den kommenden Jahren tendenziell eher zunehmen. Auch der Bund selbst hat die Problematik erkannt: Sowohl zwischen als auch innerhalb von Regionen sei "eine Verschiebung der Chancenverteilung zu beobachten", hieß es im Zusammenhang mit der Kommission "Gleichwertige Lebensverhältnisse" 2020. Es bestehe die Gefahr, "dass sich Ungleichgewichte verstetigen oder zunehmen und eine nachhaltige Entwicklung und den Zusammenhalt in unserem Land beeinträchtigen".
Um dem etwas entgegenzusetzen, gibt es neben verschiedenen Strukturprogrammen seit einiger Zeit auch Dialogforen, die etwa die Landwirtschaft und den Rest der Gesellschaft zusammenbringen und mehr Verständnis für die jeweiligen Sorgen plus gemeinsame Lösungen erreichen wollen. Unter dem Motto "Stadt.Land.Du" eröffnete Anfang 2020 auch die damalige Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner ein solches Format. Eine bundesweit geplante Tour kam wegen der Corona-Pandemie dann aber nicht zustande. Lukas Haffert von der Universität Zürich sieht solche Projekte grundsätzlich positiv, gibt aber zu bedenken: "Städter sind natürlich ein bisschen in Gefahr, sowas aus einer sehr privilegierten Position heraus anzugehen, nach dem Motto: Natürlich wollen wir diesen Konflikt reduzieren, aber am besten, indem die Landbewohner so werden wie wir.“
Verwendete Quellen:
- Gespräch mit Lukas Haffert; CHBeck.de: Stadt, Land, Frust. Eine politische Vermessung
- Bundesministerium des Innern und für Heimat: Kommission 'Gleichwertige Lebensverhältnisse'
- Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft: Stadt.Land.Du - Dialogforum des BMEL auf der IGW
- Statistisches Bundesamt: Pro-Kopf-Verschuldung steigt im Jahr 2020 auf über 26.000 Euro
- Demografie-Portal.de: Regionale Wanderungen
- Deutschlandatlas.Bund.de: Pendeldistanzen und Pendlerverflechtungen; Erreichbarkeit des Öffentlichen Verkehrs (Haltestellen); Binnenwanderung
- Deutschland.de: Stadt und Land: eine Beziehungsgeschichte
- Statista.com: Anteil von Stadt- und Landbewohnern in Deutschland von 1990 bis 2015 und Prognose bis 2050; Prognose zur Bevölkerungsentwicklung von Stadt und Land in Deutschland bis 2040
- Zeit-Stiftung.de: Stadt und Land: Gleichwertig, Polarisiert, Vielfältig
- ifo-Institut: Wie beeinflusst die Corona-Pandemie die Wohnortpräferenzen?
- Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung: Corona hat das Städtewachstum ausgebremst. Die Einwohnerentwicklung deutscher Großstädte während der Corona-Pandemie
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