Der Berliner Soziologe Steffen Mau ist der Meinung: Die Gesellschaft ist weniger polarisiert, als das angesichts von öffentlichen Debatten und Parteiengezänk wirkt. Ein Gespräch über vermeintliche Streitfragen, eine zu passive politische Mitte und unnötige Taurus-Diskussionen.
Der große Erfolg habe ihn überrascht, sagt Steffen Mau. Zusammen mit Thomas Lux und Linus Westheuser hat er die Studie "Triggerpunkte – Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft" veröffentlicht. Über das Buch wird intensiv gesprochen. Viele Menschen, die selbst Politik machen oder über sie berichten, dürften es gelesen haben – auf der Suche nach einer Antwort auf die Frage, warum die Gesellschaft derzeit so aufgeheizt erscheint.
Die These von Mau und seinen Kollegen lautet: Die Mehrheit der Bevölkerung ist sich bei zentralen Fragen überraschend einig. Von einer gespaltenen Gesellschaft könne keine Rede sein. Das muss er erklären.
Herr Mau, machen Sie sich Sorgen um den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Deutschland?
Steffen Mau: Durchaus. Konflikte sind unversöhnlicher geworden, Debatten flackern schneller auf. Das sorgt für Unruhe und letztlich für sozialen Stress, weil wir immer weniger Möglichkeiten haben, diese Konflikte zu sortieren und einzuhegen.
Gesellschaftliche Konflikte gab es immer schon. Werden sie heftiger ausgetragen als früher?
Die Art und Weise hat sich verändert. Früher waren Konflikte stark über Parteien organisiert. Die Parteien hatten unterschiedliche ideologische oder inhaltliche Profile und haben sich über Sachfragen ausgetauscht. Heute gehen viele Konflikte an den Parteien vorbei und verlagern sich zum Teil auf die Straße.
Für welche Themen gilt das?
Wir erleben eine Verschiebung zu stark emotionalisierten Themen. Denken Sie an die Corona-Pandemie, an den Nahostkonflikt oder den russischen Krieg gegen die Ukraine. Diese Themen lassen sich nicht immer mithilfe von den Profilen der Parteien strukturieren. Sie werden auch innerhalb der Parteien zum Teil unterschiedlich bewertet und sorgen dort für Unruhe.
Kommen Sie in Ihrem Buch nicht zu einem anderen Schluss? Dort beschreiben Sie die Einstellung der Bevölkerung zu vier besonders umstrittenen Themen. Und die Gesellschaft erscheint in Ihrer Studie weniger polarisiert, als man das derzeit vermuten würde.
Ich würde zwei Ebenen unterscheiden. In der Politik und in den Medien spitzen sich Konflikte eher zu. Das macht es schwieriger, zu stabilen Kompromissen zu kommen. Anders ist das auf der gesellschaftlichen Ebene. Klassischerweise nimmt man an, politische Konflikte seien ein Spiegel der Gesellschaft. Da würde ich sagen: Das Bild stimmt so nicht.
Warum nicht?
Die Einstellungen der Bevölkerung sind insgesamt viel weniger polarisiert, als man das aufgrund der öffentlichen Debatten vermuten könnte. Zum Beispiel die Diskussion um die Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern an die Ukraine: Umfragen zufolge ist ein Teil der Bevölkerung dafür und ein anderer dagegen. Das klingt zunächst nach einer gespaltenen Gesellschaft. Doch die allermeisten Leute haben nicht so eine starke Meinung dazu. Eher eine abwartende Position.
Warum scheint es dann so, als würde Deutschland über die Taurus-Lieferung so erbittert streiten?
In der Politik besteht ein Anreiz, Unterschiede überzubetonen und den Konsens ein Stück weit auszublenden. Die breite gesellschaftliche Mitte ist nicht mehr so stark parteilich gebunden. Die meisten Parteien drängen daher einerseits in die politische Mitte, müssen andererseits aber unterscheidbar werden. Jede Partei ist darauf angewiesen, ihren Standpunkt deutlich zu machen. Man zerlegt sich dann an spezifischen Themen – zum Beispiel, ob es eine Bezahlkarte für Geflüchtete geben soll oder nicht. Es geht nicht mehr um die großen Fragen: Sollen die Grenzen offen sein oder geschlossen? Brauchen wir das Asylrecht oder nicht?
Gibt es denn beim Thema Migration einen gesellschaftlichen Konsens?
Inzwischen sind die allermeisten Deutschen der Meinung, dass wir eine Einwanderungsgesellschaft sind und diese Einwanderung auch aus ökonomischen Gründen brauchen. Der Konflikt entzündet sich stärker an der Frage, ob wir in der Lage sind, mit großen Zuwanderungszahlen überhaupt umzugehen. Haben wir genügend Kapazitäten für Unterbringung, Sprachkurse, Integration in Schulen und den Arbeitsmarkt? Die große Mehrheit hat kein Problem mit Migration – wenn sie das Gefühl hat, dass die Integration gelingen kann. Wenn dieses Gefühl verloren geht, kommen auch Zweifel an der Migration auf.
Steffen Mau: "Der Leistungsgedanke ist in der Gesellschaft stark verankert"
Ein klassischer politischer Konflikt ist die Verteilung zwischen Arm und Reich, zwischen unten und oben. Da kommt Ihre Studie zum Ergebnis: 79 Prozent der Deutschen finden die Einkommens- und Vermögensunterschiede zu groß. Doch sozialpolitische Maßnahmen für eine stärkere Umverteilung stoßen gleichzeitig auf Skepsis – auch bei Menschen, die selbst nicht viel verdienen.
Im Vergleich zu den 80er Jahren gibt es eine wachsende Ungleichheit und sehr viel Ungleichheitskritik. Das müssten rosige Zeiten für linke Parteien sein. Das ist aber nicht der Fall. Es gibt keine Mobilisierung für einen stärkeren Sozialstaat oder eine höhere Besteuerung von Besserverdienern.
Warum nicht?
Der Leistungsgedanke ist in der Gesellschaft stark verankert. Viele Leute sind der Meinung: Wer sich anstrengt und viele Talente hat, muss auch mehr gesellschaftliche Belohnungen bekommen. Die größte Skepsis gegenüber der Erhöhung des Bürgergeldes herrscht in der sozialen Nachbarschaft von potenziellen Bürgergeld-Empfängern – bei Menschen, die wenig Geld verdienen. Der klassische Verteilungskonflikt zwischen unten und oben wird somit umgelenkt auf Konkurrenz zwischen Gruppen auf der gleichen sozioökonomischen Ebene. Selbst die Gewerkschaften sind heute nicht mehr an großen Verteilungsfragen interessiert. Kleinere Gewerkschaften wie die GDL führen Arbeitskämpfe, um die Interessen ihrer Berufsgruppe durchzusetzen. Da geht es gar nicht mehr um den gesellschaftlichen Kuchen insgesamt, sondern um Verbesserungen für die eigene Klientel.
Ihr Buch heißt "Triggerpunkte". Wer triggert in der Gesellschaft wen und warum?
Wir haben uns gefragt: Warum gibt es so viel gesellschaftlichen Konsens und trotzdem so viel öffentlichen Streit? An bestimmten Stellen können Meinungsverschiedenheiten besonders emotional und unversöhnlich werden – diese Stellen nennen wir Triggerpunkte. Sie sind berührt, wenn es um moralische Überzeugungen geht, um Vorstellungen von Gerechtigkeit und normalem Verhalten.
Haben Sie ein Beispiel dafür?
Viele Menschen haben sich eine bestimmte Sprechweise antrainiert, haben sich für einen bestimmten Lebensstil entschieden. Wenn die Politik ihnen dann das Gefühl vermittelt, dass das alles anders gemacht werden muss, können sie sehr stark darauf reagieren.
Muss die Politik nicht manchmal Veränderungen einfordern? Wenn wir zum Beispiel die Klimawandel ernst nehmen, müssen die Menschen doch bereit sein, ihren Lebenswandel einzuschränken.
Auch hier gilt: Die Gesellschaft besteht nicht nur aus überzeugten Klimaschützern und Klimaleugnern. Der Anteil der Klimaleugner ist in Deutschland kleiner als zehn Prozent. Einen Konflikt gibt es eher zwischen zwei Gruppen: Die Veränderungspioniere wollen sehr schnell vorgehen, und die andere Gruppe sagt: Bitte langsamer und mit Maß und Mitte. Man kann über Klimapolitik nachdenken, die nicht so stark das individuelle Verhalten regelt, sondern die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen verändert. Menschen mit einem nachhaltigen Lebensstil schauen manchmal moralisch herab auf die anderen, die einen Benziner fahren oder gerne Fleisch grillen. Paradoxerweise erzeugen aber Menschen mit einem nachhaltigen Lebensstil häufig mehr CO2-Emissionen – weil sie zum Beispiel größere Wohnungen haben und mobiler sind.
Welche Rolle spielen Medien bei der zugespitzten Darstellung von Konflikten?
Durch die Auswahl von Themen und Überschriften und die an Personen orientierte Darstellung von Sachthemen verstärken sie Emotionen und können Debatten hochschaukeln. In den sozialen Medien ist dieser Effekt noch stärker. Sie arbeiten stark über Emotionalisierung, damit die Nutzer dort möglichst lange bleiben. Parteien nutzen Gefühle der Sympathie oder der Ablehnung gegenüber anderen Gruppen oder politischen Vorstellungen – aber das machen auch die Medien. Politische Talkshows funktionieren heute wie ein Casting: Da werden Gäste für bestimmte Positionen gesucht. Man möchte keine differenzierten Gespräche, sondern Kontroversen.
Wie kommen wir wieder runter von dieser getriggerten Gesellschaft?
Erstmal müsste sich die politische Mitte an die eigene Nase fassen. Sie ist politisch zu passiv. Sie überlässt den öffentlichen Raum häufig den extremeren und lauteren Rändern. Die Akteure der politischen Mitte müssen Menschen so ansprechen, dass sie sich wiedererkannt und ermutigt fühlen. Ich komme auf das Beispiel mit den Waffenlieferungen an die Ukraine zurück: In den sozialen Medien bekommt man das Gefühl, die Gesellschaft bestehe nur aus naiven Lumpenpazifisten oder gesinnungslosen Kriegstreibern. Die allermeisten Leute sagen aber: Ja, man muss die Ukraine unterstützen – aber mit Bedacht und Vorsicht, weil man diesen Krieg nicht eskalieren will.
Über den Gesprächspartner
- Steffen Mau, geboren 1968 in Rostock, ist seit 2015 Professor für Makrosoziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er ist unter anderem Träger des Leibniz-Preises der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Zusammen mit Thomas Lux und Linus Westheuser hat er im vergangenen Jahr das viel beachtete Buch "Triggerpunkte – Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft" (Edition Suhrkamp) veröffentlicht.
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