- Der neue Landwirtschaftsminister Cem Özdemir (Grüne) ist mit einem heiß diskutierten Vorstoß in seine Amtszeit gestartet: Zum Schutz von Umwelt und bäuerlichen Betrieben sollen Preise für Lebensmittel und Agrarprodukte steigen.
- Sozialverbände schlugen Alarm und forderten einen Ausgleich für finanziell schlechter gestellte Menschen.
- Armutsforscherin Irene Becker erklärt im Interview, was steigende Lebensmittelpreise für die Ärmsten bedeuten würden - und wie man sie fairer gestalten könnte.
Grünen-Politiker
Irene Becker: Ja, die Kritik ist berechtigt. Auch mein erster Gedanke war, dass Özdemir leider nicht darauf eingeht, wie sich steigende Lebensmittelpreise für verschiedene Schichten in der Bevölkerung darstellen und was die Ärmsten dadurch zu schultern haben. Ich habe zumindest einen Hinweis darauf vermisst, dass die Mindestsicherungssysteme parallel reformiert werden müssen oder weitere Schritte zur sozialgerechten Gestaltung nötig sein werden.
1,8 Millionen Kinder unter 18 Jahren zählen zur Gruppe der Hartz-IV-Empfänger
Wie viel Geld haben die Ärmsten in Deutschland denn für Nahrungsmittel?
Im Regelbedarf der Grundsicherung sind für einen Erwachsenen aktuell für Lebensmittel und alkoholfreie Getränke 156 Euro vorgesehen. Das bleibt etwa ein Viertel hinter dem zurück, was in der gesellschaftlichen Mitte für Ernährung ausgegeben wird.
Für Kinder schwanken die Beträge altersabhängig zwischen 94 und 166 Euro. Eine Familie mit zwei kleinen Kindern in einem Hartz-IV-Haushalt bekommt demnach 469 Euro im Monat für die Ernährung der gesamten Familie – also etwa 115 Euro pro Woche. Das ist nicht viel. Ich kann mir nicht vorstellen, dass man von diesem Budget einfach zu Bio-Lebensmitteln greifen kann.
Wie viele Menschen leben auf diesem Niveau?
Wenn man die Menschen, die Hartz IV, Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung und Transfers nach dem Asylbewerberleistungsgesetz zusammenrechnet, waren es in Deutschland 2019 etwa 6,9 Millionen Menschen, also 8,3 Prozent der Gesamtbevölkerung. Zur Gruppe der Hartz-IV-Empfänger zählen allein 1,8 Millionen Kinder unter 18 Jahren.
Es gibt außerdem eine große Bevölkerungsgruppe, die einen Hartz-IV-Anspruch hat, ihn aber nicht wahrnimmt. Schätzungen zufolge nehmen 40 Prozent der Anspruchsberechtigten ihren Anspruch gar nicht wahr. Rechnet man sie hinzu, kommt man auf 11,5 Millionen Menschen, die auf Hartz-IV-Niveau leben oder darunter.
Welche Rolle spielen Bio-Lebensmittel für die Ärmsten der Armen?
Qualitative Untersuchungen haben ergeben, dass sich die Menschen am unteren Rand der Gesellschaft dadurch ausgegrenzt fühlen, dass sie immer das Günstigste kaufen müssen und zur Tafel gehen müssen, um über die Runden zu kommen. Ernährung ist auch eine Form der gesellschaftlichen Teilhabe, die diesen Menschen in bestimmten Teilen vorenthalten bleibt. Sie würden gerne mithalten, aber es geht finanziell einfach nicht.
Was würden steigende Lebensmittelpreise für diese gesellschaftliche Gruppe bedeuten?
Wenn der Sozialstaat nicht eingreift, wird es für die Ärmsten der Armen fast unmöglich, die steigenden Lebensmittelpreise noch irgendwie zu kompensieren. Theoretisch können Betroffene ihre Ernährung nur auf weniger oder anderes umstellen – heißt zum Beispiel: Sie müssen mehr Brot und weniger frisches Gemüse kaufen. Dieser Effekt wäre fatal, denn er würde gegen eine gesunde und ausgewogene Ernährung gehen.
Gäbe es weitere mögliche Konsequenzen?
Ein anderer Effekt könnte sein, dass die Menschen im Hartz-IV-Bezug in anderen Bereichen sparen müssen, also etwa in den Bereichen Mobilität, Kleidung, Bildung oder Freizeit. Die Preise steigen aber allgemein, sodass mir dies kaum möglich erscheint.
Ausgrenzungsprozesse als Folge
Zudem sind die Bedarfe der soziokulturellen Teilhabe in der Grundsicherung ohnehin nur marginal gedeckt – die Sozialleistungsempfänger können nur etwa 20 Prozent dessen ausgeben, was in der gesellschaftlichen Mitte normal ist. Wenn auf diesem geringen Niveau die Ausgaben weiter zurückgeschraubt werden müssen, hätte das noch mehr Ausgrenzungsprozesse, auch für Kinder und Jugendliche, zur Folge. Die Effekte sind also sowohl individuell als auch gesellschaftspolitisch fatal.
Was könnte der Staat tun, um ökologisch und sozial faire Lebensmittelpreise erschwinglich zu halten?
In das Preisgeschehen kann der Staat nicht direkt eingreifen, aber er kann strengere Vorschriften für die Produktion von Lebensmitteln erlassen, beispielsweise in Bezug auf das Tierwohl oder den Einsatz von Chemie auf den Äckern. Dann werden die Lebensmittelpreise steigen, denn nachhaltig produzierte Lebensmittel sind teurer. Um das sozialverträglich zu gestalten, müsste der Staat dann Mindestsicherungsleistungen, aber auch Wohngeld und den Mindestlohn anpassen.
Welche weiteren Lenkungsoptionen hat der Staat?
Alternativ zu solchen Transferleistungen könnte der Staat auch nachhaltig produzierende Betriebe stärker subventionieren. Damit würde sich die Preisspanne zwischen nachhaltig und herkömmlich produzierten Lebensmitteln verkleinern.
Dann würden die Lebensmittelpreise nicht unbedingt steigen, aber die in Armut lebende Bevölkerung hätte davon wenig. Die billigen Lebensmittel sind weiter auf dem Markt und die Hartz-IV-Empfänger werden sie trotz Subventionierung der anderen Produkte weiterhin kaufen müssen, wenn die Mindestsicherung so gering bleibt.
Wäre eine Senkung der Mehrwertsteuer für Bio-Lebensmittel sinnvoll?
Bei Lebensmitteln beträgt die Mehrwertsteuer ohnehin nur sieben Prozent. Für einen spürbaren Effekt müsste sie für Bio-Produkte komplett wegfallen. Ob sich die in Armut lebende Bevölkerung dann die hochwertigen Lebensmittel leisten kann, ist damit aber noch nicht gesagt.
Durch eine Subventionierung der Preise würde die Nachfrage steigen – dann wären die Bio-Lebensmittel knapper und würden wieder teurer. Subventionierungen folgen dem Gießkannen-Prinzip, die Ärmsten werden damit nicht gezielt unterstützt. Deshalb könnte eine Mehrwertsteuersenkung nur Teil eines umfassenderen Konzepts sein.
Könnte von stärker gelenkten Preisen denn am Ende sogar die Gesamtgesellschaft profitieren?
Natürlich, der Staat muss lenkend eingreifen. Auch wenn dies zunächst nur über Preise läuft, ist das ein sinnvoller Schritt. Die Debatte hat nicht nur eine armutspolitische Facette, sondern auch klima- oder gesundheitspolitische Relevanz. Hochwertigere Lebensmittel kommen allen zugute, die Ärmsten der Armen dürfen dabei nur nicht außen vor bleiben.
Am effektivsten wäre es wohl, die Vorschriften anzuziehen und die Ärmsten direkt zu unterstützen. Wir setzten schon lange mit mäßigem Erfolg auf Freiwilligkeit – eine Preissubventionierung ist ebenfalls ein freiwilliges Angebot an die Verbraucher, auf Bio-Lebensmittel zu wechseln.
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