Der Autor und Theologe Stephan Anpalagan nimmt kein Blatt vor den Mund: In Deutschland läuft gerade sehr viel schief, findet er. Ein Interview über Antisemitismus, Rassismus und die neue Asyldebatte.

Ein Interview

Autor, Podcaster, Rockmusiker und Theologe: Stephan Anpalagan nutzt viele Wege, sich auszudrücken – und zu provozieren. Immer wieder eckt er mit seinen scharfen Beiträgen zu Debatten über Rassismus, Antisemitismus und Migration an. "Die Linken können mich nicht leiden und die Rechten hassen mich", sagt Anpalagan, kurz bevor das Interview losgeht.

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Das Gespräch findet in einem Café im Norden Berlins statt, wo er sich gerade für einen Tag beruflich aufhält. Es geht um Anpalagans neues Buch "Kampf und Sehnsucht in der Mitte der Gesellschaft", seine Enttäuschung über den Umgang muslimischer Verbände mit dem Terrorangriff auf Israel und darüber, was seiner Meinung nach in der deutschen Asyldebatte gerade schiefläuft.

Sie haben vergangene Woche Ihren X-Account mit über 130.000 Followern für eine Woche an die Jüdische Studierendenunion Deutschland übergeben. Warum?

Stephan Anpalagan: Ich war schlichtweg entsetzt über die Gräueltaten der Hamas. Es gab in der deutschen Berichterstattung im Anschluss an dieses Massaker eine deutliche Leerstelle, weil ausgerechnet die Stimmen von Jüdinnen und Juden in Deutschland zu wenig gehört wurden. Was ich in der Situation zu sagen habe, ist dagegen nun wirklich nicht wichtig. Vielleicht nur so viel: Ich stehe fest an der Seite Israels. Wir alle sollten das tun. Deshalb und weil ich mir Sorgen um die Sicherheit der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland mache, habe ich über diese Entscheidung nicht lange nachgedacht. Die Vertreterinnen und Vertreter der Jüdischen Studierendenunion sind hervorragende, kluge junge Menschen. Ihre Stimme wollte ich verstärken.

In Berlin gab es einen Brandanschlag auf eine Synagoge und auf der Sonnenallee verteilten Menschen Süßigkeiten zur Feier des Hamas-Terrors. Seitdem wird wieder viel über Antisemitismus unter Muslimen gesprochen. Wie blicken Sie auf diese Debatte?

Ich bin wütend. Sehr wütend. Insbesondere auf die muslimischen Verbände und ihre Funktionäre. Es sollte selbstverständlich sein, den Mord an 1.400 Menschen als das zu bezeichnen, was es ist: ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Ich verstehe nicht, wie man nach so einem Ereignis als Mensch, egal welcher Religion, nicht abgrundtief entsetzt und schockiert sein kann. Wenn es muslimische Religionsverbände in Deutschland nicht schaffen, den Terror der Hamas unmissverständlich zu verurteilen, sich an die Seite Israels zu stellen und sich von dem antisemitischen Mob auf deutschen Straßen zu distanzieren, dann braucht es sie nicht. Dann sollen sie sich auflösen und ihre Räumlichkeiten und ihre Gelder besseren Organisationen zur Verfügung stellen. Andererseits ist es falsch, fünf Millionen Muslime in eine Ecke zu stellen und sie pauschal zu Hamas-Befürwortern zu machen. Das ist etwas, das die deutsche Mehrheitsgesellschaft leider gerne tut.

"Wir sollten keine Aber-Diskussion, sondern eine Und-Diskussion führen."

Stephan Anpalagan

In Ihrem neuen Buch haben Sie dafür den Begriff "Migrantisemitismus" gefunden. Sie sagen, an Menschen mit Migrationshintergrund werden andere Maßstäbe angelegt, wenn es um Antisemitismus geht.

Das ist auch in der aktuellen Diskussion der Fall. In einer Umfrage des jüdischen Weltkongresses aus dem Jahr 2022 kam heraus, dass jeder fünfte Deutsche antisemitisch denkt. Unter den 18- bis 29-Jährigen ist es sogar jeder dritte. In manchen Teilen Deutschlands ist die rechtsextreme AfD, die immer wieder mit antisemitischen Ausfällen von sich reden macht und in der das Gedenken an den Holocaust infrage gestellt wird, stärkste politische Kraft. Vor zwei Jahren liefen Tausende Querdenker Seit' an Seit' mit Neonazis durch deutsche Straßen, trugen "Ungeimpft"-Judensterne am Revers und verglichen sich mit Anne Frank. Regelmäßig geraten Polizisten mit antisemitischen WhatsApp-Chats in die Schlagzeilen. Den wegen antisemitischer Umtriebe in die Kritik geratenen Hans-Georg Maaßen hat die CDU 2021 zum Bundestagskandidaten gemacht. Hubert Aiwanger von den Freien Wählern ist ein schönes Beispiel dafür, wie wir mit dem deutschen Antisemitismus umgehen. Die Debatte um das antisemitische Flugblatt und seine rechtsextremen Umtriebe als Schüler haben ihm nicht geschadet. Im Gegenteil: Er ist vor zwei Wochen gestärkt daraus hervorgegangen. Richard David Precht hat vor einer Woche antisemitische Stereotype im öffentlich-rechtlichen Rundfunk verbreitet. Seinen Job wird er darüber aber nicht verlieren.

Wäre es anders gelaufen, wenn Precht einen Migrationshintergrund hätte?

Ich würde ein Monatsgehalt darauf verwetten, dass das ZDF ihn sofort rausgeworfen hätte. Wir sollten jedoch keine Aber-Diskussion, sondern eine Und-Diskussion führen. Wir müssen über den Antisemitismus der Mehrheitsgesellschaft und den unter Migranten sprechen. Über den Antisemitismus von Links und von Rechts, von Ost und von West, von Arm und von Reich. Man darf sich nicht immer nur auf den Antisemitismus der anderen konzentrieren.

Die Debatte um Antisemitismus vermischt sich gerade mit der um Migration. Vertreter aller Ampel-Parteien sowie der Union haben in den vergangenen Tagen die Abschiebung von Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft gefordert, die den Hamas-Terror gutheißen. Was halten Sie von dieser Forderung?

Es braucht diese Forderung überhaupt nicht, weil sie der aktuellen Rechtslage entspricht. Wer als Ausländer in Deutschland Straftaten begeht, Straftaten billigt oder eine terroristische Vereinigung unterstützt, verliert bereits heute jegliches Recht, in diesem Land zu bleiben. Und ja, ich bin dafür, dass Menschen, die antisemitische Straftaten begangen haben, abgeschoben werden, sofern das möglich ist. Dafür braucht man aber keine komplizierte Asylrechts- und Abschiebedebatte. Die Antisemitismus-Expertin Kati Lang, die im Prozess gegen den antisemitischen Terroristen von Halle die Nebenklage vertreten hat, machte in einem Interview deutlich, dass wir keine Strafbarkeitslücke bei antisemitischen Straftaten haben, sondern ein Polizei- und Justiz-Problem, um geltendes Recht durchzusetzen.

Olaf Scholz sorgte mit einem Interview im "Spiegel" für Aufsehen. Er sagte: "Wir müssen endlich im großen Stil diejenigen abschieben, die kein Recht haben, in Deutschland zu bleiben." Halten Sie diesen Satz für problematisch?

Inhaltlich sehe ich hier kein großes Skandalpotenzial. Wer nicht berechtigt ist, in Deutschland zu bleiben, muss gehen. Und nur zur Erinnerung: Die wenigsten von ihnen werden straffällig. Es gibt aber viele Gründe, warum Abschiebungen nicht vollstreckt werden können: Die Betroffenen sind krank, sie werden in ihrer Heimat politisch verfolgt oder sie machen gerade eine Berufsausbildung. Insgesamt kann nur ein Bruchteil der Ausreisepflichtigen wirklich abgeschoben werden. Das alles sollte ein Bundeskanzler wissen. Was ich daher kritisieren würde, ist die Prioritätensetzung, die Olaf Scholz mit solchen Aussagen macht. Vor allem aber, dass er mit diesen Worten die aktuelle Stimmung gegen Migranten weiter anheizt und damit mindestens grob fahrlässig handelt.

Viele Beobachter konstatieren derzeit eine Verschärfung der Migrationsdebatte. Nehmen Sie das auch so wahr?

Die Debatte in den 1990er-Jahren war, auch wenn man das kaum glauben mag, schlimmer. Die CDU gebärdete sich damals wie die AfD heute und die brennenden Häuser von ausländischen Familien bildeten die Begleitmusik zu einer Verschärfung des Asylrechts. Ich bin ja im benachbarten Wuppertal aufgewachsen und weiß, dass damals in Solingen, nach dem Anschlag auf das Haus der Familie Genç, wochenlang Strickleitern ausverkauft waren. Die Menschen haben mit Wassereimern im Flur geschlafen und ihre türkischen Namensschilder abgeschraubt. Es herrschte eine unglaublich menschenfeindliche Atmosphäre. Man sollte daher nicht vorschnell von einer Verschärfung der Debatte sprechen. Unsere Gesellschaft wird immer liberaler. Wenn vor diesem Hintergrund aber der fremdenfeindliche Ton gleich bleibt, wird das Missverhältnis zwischen der gesellschaftlichen Entwicklung und der politischen Kommunikation größer. Das ist es, was wir gerade erleben. Aber nach wie vor gilt: Die deutsche Debatte über Migration ist unehrlich und verlogen.

"Deutschland ist eines der unattraktivsten westlichen Länder für qualifizierte Ausländer."

Stephan Anpalagan

Inwiefern?

Während einerseits eine Obergrenze für Geflüchtete von 200.000 gefordert wird, brauchen wir eigentlich jedes Jahr 400.000 zugewanderte Arbeitskräfte. Das passt nicht zusammen. Deutschland ist eines der unattraktivsten westlichen Länder für qualifizierte Ausländer. Was mir fehlt, sind mehr Stimmen, die dem Ausländer-raus-Gegröle entgegentreten. Klar können wir alle Ausländer und Migranten rauswerfen. Dann muss der deutsche Heinz seine Oma aber selbst pflegen und seinen Spargel aus der Erde wühlen. Dann muss er die Schweine selbst schlachten und die Tram fahren. Ohne Migranten würde Deutschland in einer halben Stunde zusammenbrechen.

Eine aktuelle Studie der Europäischen Agentur für Grundrechte zeigt, dass Schwarze in Deutschland von allen 13 berücksichtigten EU-Ländern am meisten Diskriminierung erlebt haben. Überrascht Sie dieses Ergebnis?

Überhaupt nicht. Während wir sprechen, muss sich Aldi Nord gegen eine rassistische Kampagne wehren, weil in einem Aldi-Prospekt ein schwarzes Model zu sehen war. Das ist für schwarze Deutsche Alltag in diesem Land. Wir haben in Deutschland einen tief in die Gesellschaft eingegrabenen Fremdenhass, Antisemitismus und Rassismus. Dieses Problem ist auch im Vergleich zu anderen Ländern sehr groß. Unsere Behörden und wir als Gesellschaft tun viel zu wenig, um das anzugehen. In Deutschland fehlt die Bereitschaft, sich mit dem eigenen Rassismus und Antisemitismus auseinanderzusetzen.

Was sagt das über die deutsche Gesellschaft aus?

Deutschland ist meine Heimat, hier bin ich aufgewachsen. Dennoch fehlt es noch immer an der Selbstverständlichkeit, dass jemand wie ich dazugehören kann. Ganz vielen Menschen geht es genauso: Sie fühlen sich Deutschland zugehörig und dennoch wird ihnen die Anerkennung verweigert.

Sie schreiben in Ihrem Buch, dass man Deutschland lieben kann, wenn auch nur mit einem gebrochenen Herzen. Wie viel Liebe können Sie derzeit für dieses Land aufbringen?

Ich vergleiche Deutschland gerne mit einer Familie. Man kann seine Geschwister manchmal blöd finden oder Stress mit seinen Eltern haben, aber man bleibt immer Teil der Familie. Man hat nun mal keine andere. Und genauso habe ich nur eine Heimat. Ich liebe dieses Land, weil es das einzige ist, dem ich mich zugehörig fühle. Meine Liebe ist ungebrochen. Aber gerade, weil Deutschland meine Heimat ist, würde ich mir wünschen, dass vieles in unserem Land anders wird.

Über den Gesprächspartner:

  • Stephan Anpalagan wurde 1984 in Sri Lanka geboren. Er war nur wenige Monate alt, als seine Eltern mit ihm nach Deutschland zogen. Anpalagan wuchs in Wuppertal auf und studierte in Bochum Theologie und Anglistik. Er ist Gründer und Geschäftsführer der gemeinnützigen Unternehmensberatung "Demokratie in Arbeit", Co-Hoster des Podcasts "Gegen jede Überzeugung" und Keyboarder der Band microClocks. Anpalagan veröffentlicht regelmäßig Gastbeiträge, unter anderem in "ZEIT Christ & Welt" und der "Frankfurter Rundschau". Ende September 2023 erschien sein Buch "Kampf und Sehnsucht in der Mitte der Gesellschaft".
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