- Immer mehr Menschen fragen sich: Soll ich mich zum vierten Mal gegen das Coronavirus impfen lassen?
- Die Ständige Impfkommission - das für Deutschland zuständige Gremium - empfiehlt die zweite Auffrischungsimpfung nur über 70-Jährigen und Angehörigen einiger Risikogruppen.
- Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach sieht das allerdings ganz anders.
Sommer, Sonne und weitere Schutzimpfung? Die Antwort auf die Frage, ob und wann eine zweite Auffrischungsimpfung gegen das Coronavirus medizinisch sinnvoll und angebracht ist, wird derzeit in der Politik kontrovers diskutiert.
Das Expertengremium Ständige Impfkommission (kurz Stiko), das beim Robert-Koch-Institut (RKI) angesiedelt ist, empfiehlt "gesundheitlich besonders gefährdeten bzw. exponierten Personengruppen", Menschen ab 70 Jahren, Bewohnern und Betreuern in Pflegeeinrichtungen sowie Ärzten, Krankenschwestern und allen anderen, die in direktem Kontakt zu Patienten stehen, eine zweite Auffrischungsimpfung. Die EU-Gesundheitsbehörde ECDC und die EU-Arzneimittelbehörde EMA hatten die Mitgliedsstaaten in der vergangenen Woche aufgefordert, alle Menschen ab 60 Jahre viermal zu impfen.
Diese Empfehlungen gehen Bundesgesundheitsminister
Mit einer Viertimpfung "hat man einfach eine ganz andere Sicherheit", erklärte Lauterbach. Das Long-Covid-Risiko sei "deutlich reduziert für ein paar Monate", ebenso das Infektionsrisiko. Einen an Omikron angepassten Impfstoff könnten die Menschen auch nach der vierten Impfung nehmen.
Stiko-Chef: "Mit Alter steigt Risiko für schweren Verlauf"
Der Virologe Jonas Schmidt-Chanasit sprach in der "Welt am Sonntag" ("Wams") von einer kommunikativen Fehlleistung des Ministers: "Es gibt eine klare Empfehlung der Stiko, die ist evidenzbasiert", sagte der Wissenschaftler. "Es gibt keine wissenschaftlichen Daten, die nahelegen, dass sich zwanzigjährige gesunde Menschen ein viertes Mal impfen lassen sollten."
Stiko-Chef Thomas Mertens betonte ebenso in der "Wams", dass er keine Daten kenne, die Lauterbachs Ratschlag rechtfertigten. "Ich halte es für schlecht, medizinische Empfehlungen unter dem Motto 'Viel hilft viel' auszusprechen", kritisierte Mertens. Die dreimalige Impfung mit den verfügbaren Impfstoffen schütze gut vor schweren Verläufen. "Aber die Übertragung des Virus wird nur gering beeinflusst."
Allerdings räumte Mertens ein: Dass die EU-Gesundheitsbehörde ECDC und die EU-Arzneimittelbehörde EMA die Altersgrenze vergangene Woche auf 60 festsetzt hatten, sei vertretbar. "Mit zunehmendem Alter steigt das Risiko für einen schweren Verlauf. Es ist nicht einfach, hier einen genauen Cut beim Alter zu machen", sagte Mertens.
Pilsinger rügt Lauterbach-Vorstoß zur zweiten Booster-Impfung: "Konjunkturprogramm für Querdenker"
Vom Koalitionspartner FDP kam ebenfalls Kritik an Lauterbachs Vorstoß. "Herr Lauterbach tut meiner Meinung nach gut daran, der Stiko bei Impfempfehlungen nicht vorauszugreifen", sagte FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai dem Nachrichtenportal "T-online". Als zuständiger Minister solle sich der SPD-Politiker vielmehr darum kümmern, dass die Pandemiebekämpfung jetzt effizient gehandhabt werde. Nötig sei eine verlässliche Datenerhebung.
CSU-Politiker Stephan Pilsinger sieht in Lauterbachs Impfempfehlung "eine klare Misstrauenserklärung gegenüber den zuständigen Expertengremien". Der SPD-Minister stoße damit die Ständige Impfkommission und die Europäische Arzneimittelaufsicht EMA vor den Kopf "und fördert die Skepsis der Bevölkerung in staatliche Institutionen", sagte der CSU-Bundestagsabgeordnete der "Augsburger Allgemeinen" am Wochenende. "So ein Verhalten ist ein Konjunkturprogramm für die Querdenkerbewegung."
Bayerns Gesundheitsminister Klaus Holetschek (CSU) schloss sich im RBB-Inforadio zwar grundsätzlich der Empfehlung von Lauterbach an, kritisierte aber den Zeitpunkt der Kommunikation. So empfehle die EU-Kommission derzeit, dass Menschen über 60 Jahre ein viertes Mal geimpft werden, und die Stiko empfehle es ab 70. Wichtig sei aber "eine Kommunikation, die einheitlich ist, die Vertrauen schafft". Mit Blick auf Lauterbachs jetzige Empfehlung fügte er hinzu: "Damit schafft man kein Vertrauen in der Bevölkerung."
Bundesregierung plant "sehr ambitionierte Impfkampagne"
Die künftigen Corona-Maßnahmen sollen im Infektionsschutzgesetz festgelegt werden, das in seiner jetzigen Fassung zum 23. September ausläuft. Lauterbach hatte angekündigt, bis zur Sommerpause Eckpunkte präsentieren zu wollen. Diese liegen aber bislang noch nicht vor.
Dem aktuellen Wochenbericht des RKI zufolge bleibt der Infektionsdruck in der Allgemeinbevölkerung hoch. Über anderthalb Jahre nach Beginn der Impfkampagne gegen das Coronavirus in Deutschland haben Ärzte laut aktuellen Zahlen des Bundesgesundheitsministeriums und des RKI bundesweit bereits 183,4 Corona-Impfungen verabreicht. Das heißt: 64,7 Millionen Menschen (76,2 Prozent der Bevölkerung) sind grundimmunisiert; 51,4 Millionen haben eine Booster-Impfung erhalten; 6,2 Millionen sogar eine zweite.
Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) hatte kürzlich eine "sehr ambitionierte Impfkampagne" vor allem in Alten- und Pflegeheimen angekündigt. Diese werde einen großen Beitrag dafür leisten, "dass weniger Menschen sterben oder schwer erkranken". (afp/dpa/mf)
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