Nach dem Suizid des terrorverdächtigen Dschaber al-Bakr in der Justizvollzugsanstalt Leipzig steht die Frage im Raum, wie es dazu überhaupt kommen konnte. Auf die Erklärungen der sächsischen Justizbehörden folgten umgehend Vorwürfe und Anschuldigungen, falsche Entscheidungen hätten den Selbstmord des 22-jährigen Syrers erst möglich gemacht. Der Sachverhalt ist komplex.

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Der Suizid von Dschaber al-Bakr ist ein Politikum und schlägt entsprechend hohe Wellen, bedeutet er doch einen schweren Rückschlag in den Ermittlungen zu den geplanten Terroranschlägen in Deutschland.

Sachsens Justizminister Sebastian Gemkow (CDU) betonte auf einer Pressekonferenz am Donnerstag: "Das hätte nicht passieren dürfen, ist aber leider geschehen. Obwohl wir nach jetzigem Stand alles getan haben, um das zu verhindern."

Dulig: "Eine Reihe von Fehleinschätzungen!"

Genau das sieht Martin Dulig anders. Der sächsische Vize-Ministerpräsident (SPD) ging unmissverständlich in die Offensive und erhob schwere Vorwürfe: "Es ist offensichtlich zu einer Reihe von Fehleinschätzungen sowohl über die Bedeutung als auch den Zustand des Gefangenen gekommen."

Bereits wenige Stunden nachdem bekannt geworden war, dass sich Dschaber al-Bakr das Leben genommen hatte, hatten Politiker aus verschiedenen Parteien ihre Fassungslosigkeit und Empörung zum Ausdruck gebracht. Der Tenor war immer der gleiche: Das hätte niemals passieren dürfen.

Dem hält die Gewerkschaft der Strafvollzugsbeamten entgegen, dass ein Suizid nicht dauerhaft zu verhindern sei. "Wer den festen Willen zur Selbsttötung hat, setzt das irgendwann in die Tat um, egal ob im Gefängnis oder draußen", erklärte der Gewerkschaftsvorsitzende René Selle.

Kritiker wie Martin Dulig betonen jedoch die exponierte Bedeutung des Gefangenen. Es könne nicht sein, dass ein unter Terrorverdacht stehender Mann wie ein "Kleinkrimineller" behandelt werde, erklärte der SPD-Minister und stellte die Frage, wie ein potenzieller Selbstmordattentäter nicht als selbstmordgefährdet eingestuft werden konnte.

"Der aktuell wohl brisanteste Gefangene der Bundesrepublik stand unter Verdacht, einen Sprengstoffanschlag zu planen und damit nicht nur sein eigenes, sondern das Leben vieler unschuldiger Menschen zu opfern. Schon damit hatte sich die Frage nach möglicher Suizidgefahr des Gefangenen geklärt", so Dulig.

JVA-Leiter Rolf Jacob gab zu, dass man bei der Einschätzung zu Dschaber al-Bakr "vielleicht doch ein bisschen zu gutgläubig" gehandelt haben könnte, betonte jedoch, dass man sich dabei an alle Vorschriften gehalten habe.

Doch selbst dann bleiben Fragen offen. Jene etwa, warum eine mit dem Tätertypus des Terroristen unerfahrene Psychologin Al-Bakr für nicht akut selbstmordgefährdet eingeschätzt hatte, obwohl die Haftrichterin vor seiner Überstellung in die Untersuchungshaft auf die Suizidgefahr hingewiesen hatte.

So war auch das Kontrollintervall nach Absprache mit der Psychologin von ursprünglich 15 Minuten auf 30 Minuten heraufgesetzt worden. Die Unterbringung in einem speziellen Haftraum für akut Suizidgefährdete, war laut Jacob als nicht notwendig erachtet worden.

Vandalismus statt Suizidgefahr

Auch die von Al-Bakr aus der Deckenverankerung herausgerissene Lampe in der Zelle sowie die vom Inhaftierten manipulierten Steckdosen waren laut JVA-Leiter Jacob als "Vandalismus eingestuft" worden. Es sei nicht erkannt worden, dies "als einen möglichen Hinweis auf Suizid einzuschätzen".

Verkompliziert wird der Sachverhalt durch die Tatsache, dass es in Deutschland kein einheitliches Prozedere im Umgang mit suizidgefährdeten Häftlingen gibt, was die Bewertung in "richtig" oder "falsch" deutlich erschwert. Seit der Föderalismusreform 2006 ist die Gesetzgebung im Strafvollzug Ländersache.

Auch die Intervalle zur Überwachung eines Gefangenen sind nicht bundesweit geregelt, sondern allein "Sache der JVA", erklärt Kriminologe und Polizeiwissenschaftler Thomas Feltes von der Universität Bochum gegenüber der dpa. "Die Intervalle hängen dann von der Personalstärke ab." Zum Vergleich: In Nordrhein-Westfalen muss ein Häftling bereits bei "vermuteter suizidaler Gefährdung" mindestens alle 15 Minuten in der Zelle aufgesucht werden.

Eine Rundum-Video-Überwachung von Dschaber al-Bakr wäre in Leipzig ebenfalls aus rechtlichen Gründen gar nicht erst möglich gewesen. In Sachsen sind nur sogenannte "Sitzwachen" vor der Zellentür erlaubt.

Anders beispielsweise in Bayern. Dort werden die Maßnahmen jeweils auf den Einzelfall abgestimmt, erklärt Oberregierungsrätin und Pressesprecherin des bayerischen Justizministeriums Ulrike Roider gegenüber unserer Redaktion. Dabei gehe es um eine "Unterbringung mit besonders zuverlässigen Mitgefangenen, eine verstärkte Aufsicht durch Bedienstete, eine Unterbringung in einem Raum mit Videoüberwachung oder eine Unterbringung in einem besonders gesicherten Haftraum ohne gefährdende Gegenstände".

Bayern legt Schwerpunkt auf Suizidprophylaxe

Ähnlich wie in Leipzig legt man auch in Bayern "bereits beim Zugang des Gefangenen im Rahmen des Zugangsgesprächs und der ärztlichen Untersuchungen besonderes Augenmerk auf das Erkennen einer Suizidgefahr", so Roider. Doch dabei bleibt es nicht.

Da der bayerische Justizvollzug der Suizidpräventionen eine "sehr hohe Bedeutung" beimisst, setze man mit der Suizidprophylaxe einen Schwerpunkt in der Aus- und Fortbildung der Vollzugsbeamten, erklärt die Sprecherin des Justizministeriums. Die Angestellten einer Haftanstalt sollen somit fachlich sensibilisiert werden, um "Anzeichen für Suizidgedanken bei Gefangenen zu erkennen".

In Leipzig wurden in der herausgerissenen Deckenbeleuchtung und den manipulierten Steckdosen keine Anzeichen für Suizid erkannt, sondern als Vandalismus gewertet. Ein Umstand, der neben einer Handvoll weiterer Ungereimtheiten rund um den Suizid von Dschaber al-Bakr noch Gegenstand von Untersuchungen sein wird.

Bei aller Kritik an den Entscheidungen in der JVA Leipzig sind sich die meisten Experten jedoch in einer Sache einig: "Gänzlich ausschließen lassen sich solche tragischen Fälle leider nie", meint Ulrike Roider gegenüber unserer Redaktion. Und auch die Leiterin der Bundesarbeitsgruppe Suizidprävention im Justizvollzug, Katharina Bennefeld-Kersten, betont: Wer sich umbringen wolle, schaffe das auch. "Sei es mit dem T-Shirt, das in Streifen gerissen wird oder mit dem Bettlaken."

Selbst eine Überwachung im 15-Minuten-Intervall oder kürzer könne das nicht verhindern. Tatsächlich war Al-Bakr bereits 15 Minuten nach der letzten Kontrolle tot aufgefunden worden. "Und Kleidungsstücke muss man den Häftlingen einfach zugestehen", sagt Bennefeld-Kersten.

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