Millionen Kinder in Syrien leben in ständiger Angst: Mord, Verstümmelung, Entführung, Vergewaltigung und Folter – der Bürgerkrieg mit all seinem Gräuel gefährdet ihr Leben Tag für Tag. Doch inmitten des von Bomben und Artilleriefeuer zerstörten Landes gibt es auch Hoffnung.
Sajas Augen sind traurig. Das Mädchen hat in Syrien Schreckliches erlebt. Etwas, das sich unserer Vorstellungskraft entzieht. Saja hat Familienangehörige verloren. Vier ihrer Freundinnen – Fatima, Zahra, Cedra und Wala’a – starben bei einem Bombenangriff. Sie selbst wurde schwer verletzt, verlor ein Bein. "Ich bin traurig und habe Angst", sagt die 13-Jährige in einem Video von Kinderhilfsorganisation Unicef.
Saja erinnert sich gut an das Leben vor dem Bürgerkrieg: "Vor dem Krieg konnten wir einfach nach draußen gehen und wussten, dass es sicher ist. Das Leben war wirklich schön", sagt Saja. Ihre Familie habe ein Haus gehabt. Sie sei mit dem Fahrrad oder dem Roller in die Schule gefahren. Saja schildert eine glückliche Zeit. Das war vor sechs Jahren. Da war Saja erst sieben Jahre alt. Doch der Krieg veränderte alles.
Millionen ihrer Kindheit beraubt
So wie Saja geht es Millionen von Kindern in Syrien. Mehr als acht Millionen sind seit 2011 ihrer Kindheit beraubt. Sie alle leiden unter Flucht und Vertreibung, Terror und Tod. Angst und Schrecken prägen ihren Alltag. Täglich fliegen Mörsergranaten durch die Straßen, stehen Menschen unter Beschuss, werden Eltern, Freunde und Verwandte verletzt und getötet.
Die Vereinten Nationen haben die Kriegsverbrechen gegen die Kinder zwischen Januar und Juni 2016 dokumentiert. Mord und Verstümmelung stehen ganz oben auf der Liste. 2016 wurden laut UN 1.299 Kinder in Syrien getötet oder verstümmelt. Seit 2011 starben nach Angaben der Beobachtungsstelle für Menschenrechte 15.000 Kinder.
Allein in der ersten Jahreshälfte 2017 seien durch die Vereinten Nationen mehr als 1.000 schwere Menschenrechtsverletzungen gegen Kinder dokumentiert, sagt Christian Schneider, Geschäftsführer von Unicef Deutschland, im Gespräch mit unserer Redaktion. "Aber das sind nur die Fälle, die überprüft werden können – die tatsächliche Zahl der Vergehen ist vermutlich deutlich höher."
Besonders erschüttert, dass Kinder nicht nur zufällig zwischen die Fronten geraten, sondern auch gezielt ins Visier genommen und gefoltert werden, wie Schneider berichtet. Er war vor kurzem in Aleppo und konnte sich selbst ein Bild machen. Alle Kriegsparteien hätten sich "schlimmer Menschenrechtsverletzungen schuldig gemacht".
Kinder für den Krieg rekrutiert
Zudem gibt es etliche Berichte, wonach Kinder für Kämpfe rekrutiert werden. Viele von ihnen würden einer Art Gehirnwäsche unterzogen: Gewaltvideos, die den Krieg verherrlichen, seien ein Mittel, um die Kinder gezielt zu bearbeiten, sagt Schneider. Um dann "selbst Gräueltaten zu begehen oder zumindest die kämpfenden Truppen zu unterstützen."
Wie viele Kindersoldaten es sind, darüber hat Schneider keine genauen Zahlen. Er schätzt, dass allein im vergangenen Jahr mehrere hundert Kinder von den unterschiedlichen Kriegsparteien für Kampfhandlungen rekrutiert wurden. Berichten zufolge trifft es auch Kinder unter zehn Jahren.
Doch auch von außerhalb werden Kinder zu den Waffen gezwungen: Nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) hat der Iran afghanische Kinder angeheuert, die in Syrien aufseiten der Regierungsstreitkräfte kämpfen müssen. Im Iran seien mindestens acht Gräber entdeckt worden, in denen in Syrien getötete afghanische Kinder lägen.
In Zeiten von Krieg und Terror sind Kinder auch sexueller Gewalt ausgesetzt – insbesondere Mädchen. Die Hilfsorganisation Save the Children spricht von vielen nicht dokumentierten Fällen. Helfer berichten von Selbstmordversuchen und Selbstverletzungen betroffener Mädchen in diesem Zusammenhang.
Um ihre Kinder zu schützen, würden Eltern sie deshalb schon in sehr jungen Jahren verheiraten. Die Hoffnung: Verheiratete Mädchen wären sicherer vor Übergriffen. Das Risiko eine Zwangsheirat besteht vor allem für unter 16-Jährige.
Die Folgen des Krieges
Die Brutalität des Krieges hinterlässt seine Spuren. Millionen syrische Kinder sind traumatisiert. Die Hilfsorganisation Save the Children hat die Folgen in einer Studie dokumentiert. Dafür wurden 458 Kinder und Erwachsene in Syrien befragt.
"Die Mehrheit der syrischen Kinder lebt in ständiger, teils panischer Angst vor Gewalt", heißt es. Bettnässen, Symptome von toxischem Stress, aggressives Verhalten – auch gegen sich selbst, Drogenkonsum, Schlafstörungen und Depressionen sind weitere Folgen, die beschrieben werden.
Zudem kennt die Hälfte der Erwachsenen der Studie zufolge Kinder, die aufgehört haben, zu sprechen.
Das macht der Syrien-Krieg mit Kindern:
- Bomben und Beschuss lösen die größte Angst aus: 84 %
- Kinder und Jugendliche werden aggressiver: 80 %
- Kinder machen vermehrt ins Bett oder in die Hose: 71 %
- Ich kenne Kinder und Jugendliche, die von bewaffneten Gruppen rekrutiert worden sind: 59 %
- Jugendliche nehmen Drogen, um klarzukommen: 51 %
- Kinder trauern ständig oder sind unglücklich: 49 %
- Ich kenne Kinder, die nicht mehr sprechen oder dabei Probleme haben: 48 %
Und ein Ende des Schreckens ist nicht in Sicht. In Syrien benötigen derzeit etwa sechs Millionen Kinder humanitäre Hilfe, etwa zwei Millionen davon akut. Etwa zwei Drittel der Kinder haben laut Save the Children einen Angehörigen verloren, ihr Haus wurde zerbombt oder sie wurden selbst verletzt.
Vor allem mit Blick auf den kommenden Winter warnt Unicef vor einer humanitären Katastrophe.
Die Kinder seien äußerst anfällig für Atemwegserkrankungen, Erkältungen und Lungenentzündungen
"Wir brauchen unbedingt Decken, Kleidung, Heizmaterial, einfache Öfen zum Heizen. Deshalb versuchen wir den nächsten Wochen mindestens eine halbe Million Kinder mit dem Nötigsten zu versorgen", sagt Schneider. Einige der Kinder hätten keine Wechselsachen, liefen barfuß durch die Gegend oder hätten nur einfache Schlappen an den Füßen.
Das Risiko einer gebrochenen Generation sei Save the Children zufolge nie größer gewesen. Diese Sorge treibt auch Unicef um. "Wie können wir es schaffen, dass hier nicht eine ganze Generation komplett verloren geht – weil sie keine Bildung erhält und im schlimmsten Fall von Hoffnungslosigkeit, Hass oder Depression geprägt wird?", fragt sich Schneider.
Unter bestimmten Voraussetzungen könnten Kinder die sehr schlimmen Erfahrungen kompensieren und neue Perspektiven finden. "Wir erleben immer wieder, dass viele Kinder innerlich so stark sind, also eine starke Resilienz haben", sagt Schneider.
Wichtig sei, den Kindern Verlässlichkeit und Orientierung zu bieten. Dafür müsse man so etwas wie einen normalen Alltag schaffen.
Hoffnung selbst an den schlimmsten Orten
Unicef hat in Syrien sogenannte Notfallschulen und kinderfreundliche Orte eingerichtet. Hier können die Jungen und Mädchen für einige Stunden an einem geschützten Ort lernen, zusammen spielen, singen und tanzen. Das lässt die Situation, den Krieg, das Grauen für kurze Zeit vergessen.
Stark traumatisierte Kinder werden von den NGOs zudem individuell betreut. Dafür sind die Mitarbeiter vor Ort extra geschult.
Es gebe Kinder, die sehr an ihrer Persönlichkeit arbeiteten, berichtet Schneider. Einige der Mädchen würden in Back- oder Nähkurse Fähigkeiten erlernen, mit denen sie vielleicht auch irgendwann Geld verdienen könnten. Es gebe viel Kinder, die eine große Resilienz aufweisen und die, wenn sie Zuwendung erhielten, eine Perspektive für ihre Zukunft sehen können.
So wie Saja. Schneider hat das Mädchen in Aleppo besucht und zeigt sich beeindruckt, von ihrer inneren Stärke und positiven Ausstrahlung. Im Video von Unicef strahlt die 13-Jährige große Zuversicht aus. "Trotz meiner Probleme will ich unbedingt zur Schule gehen", sagt sie.
Saja sieht ihre Zukunft klar vor sich: Sie will Sportlehrerin werden – auch wenn sie nur noch ein Bein hat. Das Mädchen will anderen Kindern helfen und Syrien zu einem besseren Ort machen. "Ich will meinen Traum erreichen. Wenn ich nicht lerne, wie soll ich dann meinen Traum erreichen?", fragt das Mädchen sehr erwachsen. "Wir brauchen Bildung, um unsere Träume zu erreichen." Saja hat extrem viel verloren, nicht aber ihre Hoffnung auf eine besseres Leben.
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