Die humanitäre Notlage für Kinder und Jugendliche in Syrien ist groß. Knapp sechs Millionen Jungen und Mädchen brauchen dringend Hilfe. Christian Schneider, Geschäftsführer von UNICEF Deutschland, war gerade in Aleppo und berichtet im Interview, wie es im vom Bürgerkrieg zerrütteten Land aussieht. Er warnt eindringlich vor einer humanitären Katastrophe im Winter.
Herr Schneider, wie ist die Lage in Syrien? Wie viele Kinder sind von Krieg und Verbrechen bedroht?
Christian Schneider: Knapp sechs Millionen Kinder brauchen dringend humanitäre Hilfe. Das entspricht fast der Hälfte aller Kinder in Deutschland. Von diesen sechs geht es zwei Millionen Mädchen und Jungen besonders schlecht, die in belagerten oder schwer zugänglichen Ortschaften leben.
Wir gehen davon aus, dass 232.000 Kinder in belagerten Gebieten fast komplett von menschenrettender, humanitärer Hilfe abgeschnitten sind. Andere, wegen anhaltender Kämpfe schwer zugängliche Orte, können wir nur unregelmäßig mit humanitärer Hilfe versorgen.
Aber die UNICEF-Mitarbeiter in Syrien und unsere Partnerorganisationen nutzen jede Chance, um auch diese Kinder mit Wasser, Nahrung, Medikamenten, Winterkleidung und auch Schulmaterial zu versorgen.
Können Sie die Verbrechen gegen Kinder in Syrien benennen?
Die Vereinten Nationen haben allein in der ersten Jahreshälfte von 2017 über 1.000 schwere Menschenrechtsverletzungen gegen Kinder dokumentiert.
Aber das sind nur die Fälle, die überprüft werden können – die tatsächliche Zahl der Vergehen ist vermutlich deutlich höher. Alle Kriegsparteien haben sich schlimmer Menschenrechtsverletzungen schuldig gemacht.
Die Kinder erleben jetzt den siebten Kriegswinter und leben noch immer in einer Umgebung, die von Gewalt geprägt ist: Sie werden durch Bombenangriffe, durch Minen, Mörser und durch Heckenschützen verletzt oder getötet. Viele haben erlebt, wie ihre Schule angegriffen wurde, haben Freunde und Verwandte sterben sehen.
Mich hat die Begegnung mit dem 14-jährigen Saad sehr bewegt, der Zeuge wurde, als bei einem Angriff in seiner Schule 22 Menschen auf grausame Weise starben, darunter seine Lieblingslehrerin und einige seiner besten Freunde.
Wie gehen die Kinder mit den schlimmen Erfahrungen um und wie hilft UNICEF?
Die gute Nachricht ist: Wir erleben immer wieder, dass viele Kinder innerlich so stark sind, also eine starke Resilienz haben, dass sie die sehr harten, sehr schlimmen Erfahrungen kompensieren und gut weiterleben können. Allerdings unter der Voraussetzung, dass sie relativ rasch in geregelte Tagesabläufe kommen.
Kinder brauchen Verlässlichkeit und Orientierung nach vorne. Deshalb haben wir zum Beispiel in Containern sogenannte Notfallschulen eingerichtet. In Aleppo konnten die ersten Kinder dadurch schon wieder im Januar zum Schulunterricht, nur wenige Wochen nach dem Ende der heftigen Kämpfe dort.
Ebenso zentral sind sogenannte "Kinderfreundliche Orte", also einfache Kinder- und Jugendzentren, die wir im ganzen Land unterstützen. Die Mädchen und Jungen können dort für einige Stunden an einem geschützten Ort lernen, mit anderen Kindern spielen, singen und tanzen.
Selbst in Gebieten, die einem Weltuntergangsszenario gleichen, ist uns das gelungen. Die Kinder mit ihren Schulrucksäcken zu sehen, setzt positive Zeichen. Das macht in noch so trostlosen Umgebungen Hoffnung.
Es gibt aber auch Fälle, in denen Kinder extrem traumatisiert sind, also unter Posttraumatischem Stress leiden. Sie werden von den UNICEF-Kollegen und den Mitarbeitern der Partnerorganisationen so individuell wie möglich betreut. Aber eine richtige Therapieversorgung, wie sie für einige Kinder sinnvoll wäre, ist bei Weitem nicht immer möglich.
Was bedeutet der Krieg für die nächste Generation junger Erwachsener, die jetzt heranwächst?
Die Frage ist: Wie können wir es schaffen, dass hier nicht eine ganze Generation komplett verloren geht – weil sie keine Bildung erhält und im schlimmsten Fall von Hoffnungslosigkeit, Hass oder Depression geprägt wird.
Was sieben Jahre Krieg im Leben eines Jugendlichen oder Kindes anrichten, kann man nur ahnen. Es gibt viele Kinder, die sehr stark sind und wenn sie Zuwendung und Unterstützung erfahren, eine Perspektive für ihre Zukunft haben.
Wir unterstützen zum Beispiel einen sogenannten "Curriculum B"-Kurs speziell für Kinder, die wegen des Krieges ein oder mehrere Schuljahre verloren haben und den versäumten Lernstoff in kompakter Form nachholen können.
Wir haben auch Projekte für Jugendliche und junge Erwachsene, die an Back-, Näh-, Sprach- oder Computerkursen teilnehmen und mit diesen Fähigkeiten vielleicht auch irgendwann Geld verdienen können.
Alles was neben dem reinen Überleben wichtig ist und eine Perspektive für die Zukunft aufzeigt, muss dringend gefördert werden – damit die Kinder für sich und ihre Heimat eine Chance erkennen.
Gibt es in Syrien noch andere Orte, die für Kinder relativ sicher sind?
Ja, es gibt Orte, zum Beispiel in der Küstenregion, die von dem Konflikt relativ wenig betroffen sind. An anderen Orten wird unvermindert gekämpft. Das Bild ist nicht einheitlich für ganz Syrien.
Die Menschen in Aleppo und auch in der Notunterkunft am Stadtrand sind im Moment weitgehend sicher. Aber die Not ist groß und die Menschen haben Angst. Nach wie vor werden Mörsergranaten abgefeuert, die jederzeit auch Zivilisten treffen können.
Im Schutt der zerstörten Gebäude gibt es Landminen und Blindgänger. Wir haben es dort mit Tausenden nicht explodierten Sprengkörpern zu tun. Besonders für Kinder, die in den Trümmern spielen, ist das eine große Gefahr. Deshalb klären wir sie darüber in den Schulen und Kinderzentren auf.
Was ist mit dem Rest der syrischen Kinder?
Ein Großteil der Bevölkerung und damit ein Großteil der Kinder sind im eigenen Land auf der Flucht. Das sind etwa drei Millionen Kinder. Sie fliehen seit sieben Jahren von einem Ort zum anderen, um den Kämpfen zu entkommen. Viele werden vier, fünf, manchmal sieben Mal vertrieben.
Drei Viertel der Menschen sind von Armut betroffen. Dadurch sehen wir auch einen Anstieg bei Kinderarbeit und Kinderehen. Die Wasserversorgung ist vielerorts nicht gesichert, das Gesundheitssystem ist stark beeinträchtigt.
Fast sieben Jahre Krieg haben tiefe Spuren hinterlassen und das Land um Jahrzehnte in der Entwicklung zurückgeworfen.
Wie sieht die medizinische Versorgung im Land aus?
In den momentan umkämpften Gebieten ist die Lage extrem schwierig. Wir wissen, dass oft nur noch wenige provisorische Ambulanzen unterwegs sind, nur wenige Ärzte übrig sind, die operieren können. Die Versorgungslage mit Medikamenten ist schwierig.
Wir unterstützen medizinische Stationen – aber einfachster Art. Ich habe einen Rohbau besucht, wo ein Arzt mit Hilfe von UNICEF das Nötigste tut. Wir unterstützen im ganzen Land Massen-Impfkampagnen gegen gefährliche Krankheiten wie Masern und Polio.
Aber es gibt auch die indirekten Folgen des Krieges, unter denen Kinder leiden. In Aleppo gibt es beispielsweise ein großes Krankenhaus, wo intensivere Betreuung stattfinden kann.
Für schwere Erkrankungen wie Krebs ist aber die medizinische Versorgung nicht ausreichend. Mit anderen Worten: Für ein Kind mit Krebs oder einer anderen schweren Krankheit sind die Überlebenschancen sehr schlecht.
Legt Ihnen das Assad-Regime Steine in den Weg?
UNICEF ist als humanitäre UN-Organisation der Neutralität verpflichtet und setzt sich für Kinder auf allen Seiten des Konflikts ein. Und diese Arbeit wird in der Regel auch von den verschiedenen Konfliktparteien respektiert und anerkannt. Das ist aber nicht immer einfach.
Besonders schwer ist es, in Gebieten Hilfe zu leisten, die stark umkämpft oder abgeriegelt sind. Was uns daher große Sorge bereitet, ist die Situation der Familien dort.
Eine unserer dringendsten Forderungen ist, dauerhaften und ungefährdeten Zugang zu diesen Hunderttausenden von Menschen zu bekommen.
Was ist momentan die größte Herausforderung?
Wir müssen die Hilfe für den kommenden Winter sicherstellen. Momentan ist es tagsüber noch angenehm warm. In der Nacht wird es jetzt bereits kalt. Vor allem die Unterkünfte sind klamm und feucht.
Wir haben vor kurzem noch Kinder gesehen, die barfuß oder in Schlappen unterwegs waren. Manchmal haben sie noch nicht einmal Wäsche zum Wechseln.
In zwei, drei Wochen kann es hier Minustemperaturen geben. Besonders für die Kinder ist das schlecht – weil sie ohnehin geschwächt und erschöpft sind. Sie sind äußerst anfällig für Atemwegserkrankungen, Erkältungen, Lungenentzündungen und vieles mehr.
Wir brauchen unbedingt Decken, Kleidung, Heizmaterial, einfache Öfen zum Heizen. Deshalb versuchen wir in den nächsten Wochen mindestens eine halbe Million Kinder mit dem Nötigsten zu versorgen. Dafür brauchen wir dringend die finanziellen Mittel.
Wo bekommen Sie die Kleidung her?
Wir versuchen sie innerhalb des Landes zu beschaffen. Einerseits gibt es in Aleppo und anderen Städten die Möglichkeit, Gutscheine zu verteilen. Die Familien können sich dann selbst in einem Netzwerk von kleineren Läden kaufen, was ihre Kinder benötigen.
Die zweite Möglichkeit ist, innerhalb Syriens benötigte Ware herstellen zu lassen und dort zu verteilen, wo es keine Einkaufsmöglichkeiten gibt.
Wir stehen dafür in den Startlöchern und können die dringend benötigte Winterhilfe sehr schnell organisieren, sobald wir die benötigten Mittel zur Verfügung haben. Die Zeit drängt, damit wir die syrischen Kinder durch den Winter bringen können.
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